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Versailles & Weimar 1918 – 1933

Man könnten sagen, einem verbrecherischen Krieg folgte ein verbrecherischer Frieden. Während nach der Niederlage Napoleons ca. hundert Jahre zuvor alle Nationen – auch die besiegten Franzosen – im Wiener Kongress von 1815 eine Nachkriegsordnung gemeinsam verhandelten und etablierten, wurde Deutschland von den Friedensverhandlungen in Versailles ausgeschlossen. Aber wäre ein milder Frieden auf Augenhöhe nach der Katastrophe des Großen Kriegs, des Einsatzes von Giftgas und der Erschießung von Zivilisten überhaupt möglich gewesen? Der Autor Eckart Conze bringt es in seinem Buch „Die große Illusion“ gut auf den Punkt:

Über 20 Millionen Tote forderte der Krieg, Soldaten und Zivilisten. Konnte vor solchem Hintergrund das Kriegsende die Stunde der Versöhnung und des Ausgleichs sein? Konnte man in dieser Stunde von den Siegern Mäßigung und Zurückhaltung erwarten und von den Verlierern eine Anerkennung ihrer alleinigen Schuld? Und hätte eine solche Anerkennung von Schuld oder Verantwortung zu einem anderen Frieden geführt, zu einem Frieden insbesondere, zu dem Frankreich bereit gewesen und der in Deutschland akzeptiert worden wäre?

Eckart Conze. Die große Illusion: Versailles 1919 und die Neuordnung der Welt.

Der erste moderne Krieg hat mit der Industrialisierung des Töten zu einer Entmenschlichung geführt, von der man sich bei den Verhandlungen in Versailles schwer lösen konnte. Somit wurde es kein Frieden im Format des Wiener Kongresses, sondern ein gescheiterter Versuch, die Vorkriegsordnung wiederherzustellen und dem vermeintlichen Aggressor Deutschland kräftig die Flügel zu stutzen.

Die Weimarer Republik hatte mit den Bedingungen von Versailles eine schwere Hypothek zu tragen. Die Revision dieses Vertrags war daher das primäre und einzige Ziel, auf das sich alle politischen Parteien der jungen Demokratie einigen konnten. Die Forderungen lassen sich in drei Punkten zusammenfassen:

  1. Wirtschaftlich: Reparationszahlungen auszusetzen, damit die Wirtschaft wieder Fahrt aufnehmen kann.
  2. Territorial: Wiederherstellung der Hoheit über das entmilitarisierte linke Rheinufers, Korrektur der Ostgrenze unter Beachtung der deutschen Minderheiten und Vereinigung mit Österreich.
  3. Militärisch: Aufhebung der Begrenzung der Reichswehr und militärische Aufrüstung.

Abb. 9: Deutschland nach Versailles – der polnische Korridor sowie die freie Stadt Danzig sollten der Auslöser des II. Weltkriegs werden.

Das Nachbeben von Versailles

Die Demokratien hatten sich im 1. Weltkrieg gegen die Monarchien Europas behauptet. Die Siegermächte waren sich uneinig und die besiegten Nationen wurden erst gar nicht zu den Verhandlungen eingeladen. Die USA zog sich enttäuscht vom „alten Europa“ in eine Politik der Isolation zurück. In den meisten Nachfolgestaaten des österreichisch-ungarischen Vielvölkerstaats etablierten sich bald autoritäre Regierungen, die untereinander nationale Konflikten ausleben. In diesem desolaten Zustand warf der rote Stern Moskaus einen langen Schatten auf Europa. In allen Staaten entstanden sozialistische Parteien, die sich direkt oder indirekt an der Sowjetunion orientierten und mit ihren Parolen die Stabilität der Demokratien gefährdeten.

Und wenn die Demokratien angeblich Werte wie Freiheit, Menschenwürde und nationale Selbstbestimmung verkörperten, höhnten die Kommunisten, wieso hatten sie dann den halben Erdball in Kolonien aufgeteilt, wo von Freiheit und Würde wenig und von Selbstbestimmung nichts zu sehen war.

1941. Der Angriff auf die Welt. Joachim Käppner, S. 69

Die Proletarier aller Länder waren empfänglich für die kommunistischen Idee, da sie die Befreiung von der kapitalistischen Ausbeutung versprachen. Die Kapitalisten befürchteten wiederum den Verlust ihrer Macht und suchten nach einer starken Hand, die ihr Eigentum vor dem Kommunisten beschützen würde.

Revision

Um sich der Reparationszahlungen zu entledigen wurde von der Regierung in den Jahren 1919 bis 1923 zuerst eine trabende, dann eine galoppierende Inflation in Kauf genommen. Deutschland sollte als zahlungsunfähig angesehen werden. Diese Hyperinflation zerstörte das gesparte Vermögen der Bürger und schwächte den Mittelstand. Laut Stefan Zweig hat nichts das deutsche Bürgertum so reif für Hitler gemacht, wie die Inflation von 1919 bis 1923.

Sie waren in den Großen Krieg gezogen mit fröhlichen Liedern, um sich den Sieg abzuholen, wie ein Sportabzeichen. Es lief anders […] und vier Jahre später war der Krieg verloren. […] Die Wut hatte begonnen, zum guten Ton zu gehören. […] Die Inflation, die Kriegsniederlage, die Arbeitslosigkeit, die Reparationen, die Ultimaten, die Besetzung des Rheinlands, der Aufstand in Oberschlesien, der latente Bürgerkrieg in Deutschland – wer war schuld?

Thomas Hüetlin. Spiegel Nr. 6/2022. S.118 

Die Wut richtete sich gegen die jüdischen Mitbürger. Der Mord an dem charismatischen Außenminister Walther Rathenau am 24. Juni 1922 war der vorläufige Höhepunkt eines um sich greifenden Antisemitismus.

Gustav Stresemann übernahm 1923 das Außenministerium und wurde zu einer treibenden politischen Figur der Weimarer Republik. Es war bestrebt, die Beziehungen mit Frankreich zu verbessern und somit die harten Bedingungen des Versailler Vertrags schrittweise zu revidieren. Frankreich war jedoch unnachgiebig und besetzte sogar 1923 kurzweilige das Ruhrgebiet, als die Reparationszahlungen nicht rechtzeitig erfolgten.

Im Vertrag von Locarno vom Oktober 1925 gelang eine teilweise Revision, was der erfolgreichen Außenpolitik Stresemanns zu verdanken war. Dennoch war er selbst später skeptisch und betrachtete die erreichten Ziele kurz vor seinem Tod als nicht ausreichend, um eine dauerhafte Stabilität zu schaffen.

„Wenn ihr mir nur ein einziges Zugeständnis gemacht hättet, würde ich mein Volk überzeugt haben […] Ich könnte es heute noch. Aber ihr habt nichts gegeben, und die winzigen Zugeständnisse, die ihr gemacht habt, sind immer zu spät gekommen […] Die Zukunft liegt in den Händen der jungen Generation. Und die Jugend Deutschlands, die wir für den Frieden und für das, neue Europa hätten gewinnen können, haben wir beide verloren. Das ist meine Tragik und eure Schuld.“

Gustav Stresemann, 1930

Die Weltwirtschaftskrise, ausgelöst durch einen Börsencrash in New York im Oktober 1929, hatte zur Folge, dass die USA ihren Wiederaufbau-Kredit an die Weimarer Republik einfroren. Die Grundlage einer langsamen Erholung der deutschen Wirtschaft fiel damit plötzlich weg. Des weiteren wurde die Situation durch den folgenden angloamerikanischen Protektionismus weiter verschärft. Wie in einer Krise üblich, dachte jeder Staat zuerst an seine eigenen nationalen Interessen.

Die Regierung unter Heinrich Brüning nutzte den weltweiten Einbruch der Wirtschaft, um eine Deflation zu befeuern. Ziel war es, Deutschland so arm zu machen, dass jegliche Forderungen nach Reparationszahlung absurd erscheinen würden. Die Deflationspolitik war nach der Inflation Anfang der Zwanziger Jahre die zweite soziale Katastrophe der Weimarer Republik. Im Jahre 1931 wurden die Reparationszahlung vom US-Präsidenten Hoover aufgehoben – bis auf eine letzte Abschlagszahlung, die aber nie erfolgte.

Die sozialen Krisen der Weimarer Republik waren direkte Konsequenzen des Versailles Vertrages. Sie wurden jedoch innenpolitische befeuert, da man Inflation und Deflation zu Instrumenten einer Revision des Versailler Vertrages machten wollte – jedoch auf Kosten der Bevölkerung. Dies ist insofern besonders hervorzuheben, da eben diese sozialen Missstände das Vertrauen der Bürger in die junge Demokratie grundlegend erschütterten.

Die Wiederbewaffnung wurde unter dem Kanzler von Schleicher im Dezember 1932 auf der Genfer Abrüstungskonferenz ermöglicht. Mit dem Argument, dass die Westmächte ebenfalls auf das Maß von Deutschland (max. 100.000 Soldaten in der Reichswehr) abrüsten müssten oder aber ihnen das gleiche Rüstungsmaß wieder zusprechen sollten, wurden die Teilnehmer der Konferenz überzeugt.

Ende 1932 hatte die Weimarer Republik zwei Ziele im Bezug auf die Revision des Versailles Vertrag erreicht: Die Aufhebung der Reparationszahlungen die eigentlich bis 1981 vorgesehen waren sowie die Aufhebung der Beschränkung der Reichswehr auf 100.000 Mann. Der Preis für das erste Ziel waren Instabilität und ein tiefes Misstrauen der Deutschen gegenüber der Republik, die sämtlichen Vermögenswerte ihrer Bürger liquidiert hatte, um die Reparationszahlungen aussetzen zu können. Die Wiederbewaffnung fiel dem nächsten Reichskanzler in den Schoß, der sie prompt nutzte, um ein Aufrüstungsprogramm einzuleiten. Dieser gebürtige Österreicher, der als Gefreiter im 1. Weltkrieg im Deutschen Heer gedient hatte, übernahm im Januar 1933 die Macht und sollte alsbald das Ende der Republik einleiteten.

Staatsstreich

Sebastian Haffner spricht in seinem Buch „Von Bismarck bis Hitler, S. 214“ von einem Staatsstreich, den Konservative um Hindenburg, von Schleicher und Brüning in den Jahren ab 1928 planten. Ziel war die Restaurierung der Monarchie in Deutschland. Dabei sollte im ersten Schritt die demokratische Republik in eine präsidiale Republik umgewandelt werden. Somit konnte der Reichspräsident von Hindenburg auch ohne das Parlament bzw. den Reichstag umfassend regieren, da er notfalls den Reichstag auflösen konnte. Dies tat er auch im Juli 1930, wobei in den Neuwahlen im September 1930 die NSDAP plötzlich die zweitstärkste Partei wurde, obwohl sie vorher nur die Rolle einer Splitterpartei eingenommen hatte. Wieso erhielt die NSDAP auf einmal soviel Zulauf?

  • Wirtschaftliche Not durch Inflation (1919-1924) und Deflation (ab 1929) parallel zur Weltwirtschaftskrise (ausgelöst durch den Börsencrash in New York).
  • Wiedererstarkter Nationalismus, den keiner so laut heraus posaunte wie die NSDAP. Gerade in Zeiten wirtschaftlicher Not, erfahren Ausgrenzung und Besinnung auf Gemeinschaft eine Renaissance.
  • Hitler als starke Führungspersönlichkeit erfüllte die Sehnsucht der damaligen Deutschen nach einem starken Mann, der das Chaos und Elend der Weimarer Republik beenden konnte.

Als nun die Konservativen nervös wurden, ließ Hindenburg den Reichskanzler Heinrich Brüning fallen und ersetzte ihn durch von Papen, der den Staatsstreich zeitnah initiieren sollte. Ende Juli fanden die Neuwahlen statt und nun wurde die NSDAP mit 37% sogar zur stärksten Partei. Dieser Reichstag von Juli 1932 konnte keine regierungsfähige Mehrheit bilden. Die Kommunisten auf dem linken und die Nationalsozialisten auf dem rechten Flügel hätten zwar eine Mehrheit bilden können, aber schwerlich eine Koalition. Deshalb ließ von Papen den Reichstag direkt wieder auflösen, wobei im noch vorher von einer überwältigenden Mehrheit im Reichstag das Misstrauen ausgesprochen wurde. Indem er trotzdem den Reichstag auflösen ließ, handelte der verfassungswidrig, da dieser Schritt einem Reichskanzler, dem das Vertrauen entzogen worden war, laut Verfassung untersagt war.

Von Papen galoppierte weiter auf den konservativen Staatsstreich zu, jedoch war es nun von Schleicher, der ihn zu Fall brachte. Das Problem einer Restaurierung der Monarchie war nämlich der fehlende Thronanwärter. Der alte Kaiser und dessen Dynastie hatten mit ihrer Flucht ins holländischen Exil den letzten Kredit verloren und ein anderer Kandidat war nicht in Sicht. Von Schleichen merkte, dass sich das Zeitfenster für eine Restaurierung der Monarchie mittlerweile geschlossen hatte und wollte nun – ähnlich wie in Italien – ein faschistisches System etablieren. Die Regierungsmacht wollte er aber nicht allein der faschistischen NSDAP überlassen. Er versuchte daher, sie zu spalten, indem er nur einen Teil der NSDAP in die neue Regierung einbinden wollte. Dies gelang ihm jedoch nicht, da sich der linke Flügel der NSDAP unter Gregor Strasser nicht von der Partei abspalten wollte.

In den wenigen Monaten als Reichskanzler konnte von Schleicher keine regierungsfähige Mehrheit zusammenbekommen. Nun bat er seinerseits im Januar 1933 den Reichspräsidenten Hindenburg den Reichstag aufzulösen. Dies verweigerte ihm aber Hindenburg und griff statt dessen auf von Papen zurück. Dieser hatte die Idee, Hitler in die neue Regierung einzubinden, damit eine Mehrheit im Reichstag zustande kommen konnte. Hitler bestand auf das Amt des Reichskanzlers, um bei dem Deal mitzumachen. Von Papen sagte zu und nah die Rolle des Vizekanzler ein, er glaubte, Hitler „einrahmen“ und somit kontrollieren zu können. Auf die Frage eines Kritikers, warum er Hitler an die Macht gebracht hat, antwortete von Papen: „Sie irren sich, wir haben ihn engagiert.“

Die Konservativen hatten den Weg für einen Staatsstreich bereiten und Hitler nutzte ihn für seine persönliche Machtergreifung.

Machtergreifung

Von Schleichen wollte einen Faschismus ohne Hitler und deshalb die NSDAP spalten, was ihm nicht gelungen ist. Von Papen wollte sie instrumentalisieren, wurde jedoch selbst von Hitler überrumpelt. Die reaktionären Kräfte der Weimarer Republik inthronisierten Hitler. Der Zeitgeist der Weimarer Republik war an autoritäre Strukturen sowie eine Herrscherfigur gewohnt. Deshalb sollte die Republik liquidiert und durch eine autoritäre Herrschaftsform ersetzt werden. Allerdings geschah dies nicht wie ursprünglich geplant durch eine Restauration der Monarchie, sondern durch einen nationalsozialistischen Führerstaat.

Hitler zementierte zügig seine Macht, nachdem er am 30. Januar 1933 Reichskanzler geworden war. Die Brandstiftung am Reichstag am 27./28. Februar 1933 wurde den Kommunisten in die Schuhe geschoben, weshalb die Ermächtigungsgesetze zum „Schutz“ der deutschen Bevölkerung erlassen wurden. Hitler machte sich skrupellos nur wenige Wochen nach seiner Ernennung zum Reichskanzler an die absolute Machtergreifung. Am 30. Juni 1934 wurde Kurt von Schleicher von den Nazis ermordet.

1983 schrieb Robert Skidelsky, der als Biograph des Ökonomen John Keynes bekannt wurde, dass Hitler wahrscheinlich nicht an die Macht gekommen wäre, wenn man 1919 – wie von Keynes postuliert – Deutschland einen vor allem wirtschaftlich milderen Frieden gewährt hätte. Sogar Hitlers Gegner reagierten zurückhaltend auf dessen aggressive Außenpolitik, weil sie es für legitim hielten, dass sich Deutschland aus den „Ketten von Versailles“ befreite.

Was waren die Gründe für den Faschismus in Europa?

  1. Die Angst der Eliten vor dem Kommunismus.
  2. Revisionistische Bestrebungen in Deutschland nach dem Versailler Vertrag.
  3. Verletzter Nationalstolz und Dolchstoßlegende in Deutschland.
  4. Auch Italien fühlte sich als Sieger-Nation des 1. Weltkrieg vom Versailler Vertrag betrogen.
  5. Weltwirtschaftskrise, Inflation und Massenarbeitslosigkeit in Deutschland.
  6. Auch die spanische Wirtschaft hatte im 1. Weltkrieg und den folgenden Kristen gelitten.

Im Kontext dieser ungünstigen Rahmenbedingungen konnte das NS-Regime in Deutschland die Macht ergreifen. Vor der Wirtschaftskrise handelte es sich bei der NSDAP nur um eine Splitterpartei. Während es in Italien noch einen König und in Spanien eine starke katholische Kirche als Gegengewicht gab, existierte in Deutschland keinerlei Institution, die sich dem Willen Hitler entgegenstellen konnte. Der europäische Faschismus kam in der Übergangsphase von der Monarchie zur Demokratie an die Macht. Nachdem sich die Monarchie im 1. Weltkrieg selbst zu Grabe getragen hatte, blieb ein autoritäres Vakuum zurück, das eine Demokratie nur ungenügend ausfüllen konnte. Es hätte Stabilität und Wohlstand gebraucht, um einer Demokratie den nötigen Glanz und Reiz zu verleihen, um sie als erhaltungswürdig zu erachten. Die Weimar Republik kannte jedoch nur Chaos und Krisen.

Der Nationalsozialismus scheint eine rein deutsche Form des Faschismus gewesen zu sein. Die Unterschiede liegen in der ideologischen Grundausrichtung. Während der Faschismus eher von unterschiedlichen „Ständen“ in Wirtschaft und Gesellschaft spricht, gilt im Nationalsozialismus ein völkisch-rassisches Konzept. Der Faschismus betont weder den Rassismus noch den Antisemitismus in einer Weise, wie es Hitler und seine Clique taten. Den Vernichtungswillen gegen ganze Bevölkerungsgruppen und die mystische Verklärung einer Vorsehung kannte der Faschismus Italiens nicht.

Die Wurzeln des Nationalsozialismus – der Alldeutsche Verband

Die Wurzeln des Nationalsozialismus reichen ins Kaiserreich zurück. Der 1891 gegründete Alldeutsche Verband unter Heinrich Claß propagierte antisemitische und expansionistische Ideen, derer sich Hitler später bedienen sollte – quasi als Bausatz für sein nationalsozialistisches Programm.

Der Sozialdarwinismus als Grundidee des Nationalsozialismus ist in England entstanden. Dort und in den USA wurde jedoch das Prinzip des „survival of the fittest“ auf den kapitalistischen Markt übertragen. Der Alldeutsche Verband lenkte das Thema auf einen vermeintlichen „Kampf der Völker“. Laut dem Historiker Andreas Wirsching läge der Grund hierfür an der späten Entstehung eines deutschen Nationalstaats. Während Frankreich und England eine lange Tradition als etablierte Nationalstaaten hatten, stellte der Alldeutsche Verband die Frage, wie mit den deutschen Minderheiten im Ausland umzugehen sei und Grenzen entsprechend verschoben werden müssten, um alle Deutschen ins Reich aufzunehmen. Während sich also die sozialdarwinistische Definition im angloamerikanischen Raum an der Frage des wirtschaftlichen Überlebens orientiert, ging es im deutschsprachigen Raum um das Überleben von Völkern und Rassen.

Der Historiker Andreas Wirsching sagte in diesem Kontext:

„…die Bühne, die Hitler 1919 betreten hat, gab es schon vor ihm. Und auch das Publikum war schon da.“

Andreas Wirsching, Spiegel Interview (Nr. 23/2021)

Der deutsche Drang nach Osten

Nachdem 1922 im Vertag von Rapallo zwei Verlierer des 1. Weltkriegs eine enge Zusammenarbeit vereinbarten, blühte der wirtschaftliche und kulturelle Austausches zwischen der Weimarer Republik und der Sowjetunion auf. Außerdem durfte die Reichswehr auf sowjetischem Territorium mit Militärausrüstung üben, die sie laut Versailler Vertrag gar nicht besitzen durfte (Flugzeuge, Panzer, Giftgas).

Mit der Machtübernahme Hitlers endete diese Zusammenarbeit und die nationalsozialistische Propaganda begann im Osten ein Feindbild aufzubauen. Der Historiker Hans Mommsen prägte hierzu den Begriff der „Kreuzzugspropaganda“. Hitler verknüpfe den Antisemitismus mit dem Antislawismus zum Feindbild des „Jüdischen Bolschewismus“. Pogrome gegen Juden gab es schon seit dem Mittelalter, sobald in Notzeiten ein Schuldiger gesucht wurde – wie zum Beispiel beim Ausbruch der schwarzen Pest. Die Slawenfeindlichkeit rührte ebenfalls noch aus dem Mittelalter, als deutsche Siedler zunehmend nach Osten drängten und zuerst die Elbe, dann die Oder überquerten, um die dortigen Slawen entweder zu vertreiben oder zu versklaven. Dabei entwickelte sich ein Überlegenheitsgefühlt der Deutschen gegenüber den Slawen. Diese Überheblichkeit gipfelte 1410 in der Schlacht von Tannenberg, als der Deutsche Ritterorder in Erwartung eines leichten Sieges über die Slawen (Polen und Litauer) bereits Ketten für die Gefangenen auf das Schlachtfeld mitbrachte, nur um nach der Schlacht selbst mit eben diesen Ketten gefesselt zu werden. Dies tat aber dem Hochmut keinen Abbruch und spätestens nach der Schlacht von Tannenberg von 1914 fühlten sich das deutsche Militär Russland überlegen. Somit fanden Hitlers Ansichten bezüglich der Eroberung von Lebensraum im Osten auch ohne viel Propaganda Anklang bei diversen Generälen und Offizieren.

Alternativ wäre es spannend zu wissen, wie Europa aussehen würden, wenn diese Zusammenarbeit zwischen Deutschland und der Sowjetunion fortgeführt worden wäre. Einen Krieg gegen Polen hätte es wahrscheinlich trotzdem gegeben, denn beide Nationen gönnten den Polen keinen eigenen Staat. Seit 1795 waren Polen jeweils Untertanen eines russischen und zweier deutscher Staates (Preußen und Österreich) gewesen.

Allerdings waren auch beide Systeme zu konträr und expansionistisch, um dauerhaft in friedlicher Koexistenz zu leben, insbesondere wenn sie nach der Annullierung Polens eine gemeinsame Grenze gehabt hätten. Mit Hitler als Staatsoberhaupt gab es keine Alternative zu einem Krieg gegen die Sowjetunion.

Wie konnte Hitler an die Macht kommen?

Anfang der 30er Jahre gelang es der NSDAP einen Wahlsieg zu erringen, obwohl sie in den 20er Jahren nur eine Splitterpartei war. Die Krisen der Weimarer Republik und rüde Wahlkampf-Agitation trieben ausreichend Protestwähler in das rechte Lager. In der letzten, offenen Wahl vom 6. November 1932 verlor die NSDAP wieder Stimmen. Somit hatte sie scheinbar ihren Zenit überschritten und wäre vielleicht wieder im historischen Neben verschwunden, wenn nicht Hitler im Januar 1933 von Papen und von Hindenburg zum Reichskanzler ernannt worden wäre.

Die konservativ-reaktionären Eliten der Weimarer Republik wollten ebenfalls einen Führerstaat, jedoch in Form einer restaurierten Monarchie, die ihre adligen Privilegien wieder einführt. Hitlers Ziele wurden von ihnen völlig missverstanden, obwohl sie in seinem Buch „Mein Kampf“ klar umrissen waren. Er sah sich als Revolutionär einer radikalen Bewegung, die mit der alten Welt brechen und eine neue Ordnung schaffen wollte. Die nationalsozialistische Ordnung war geprägt von Rassenwahn, Lebensraum und Ausbeutung. Er hatte nichts gemeinsam mit den Parteipolitikern, die mit ihm taktieren wollten und dachten, sie könnten ihn als Reichskanzler für ihre Ziele einspannen.

In nur drei Monaten nach der Machtergreifung hatte Hitler ein totalitäres Regime etabliert, das keine zweite Meinung duldete. Zum Zeitpunkt der Machtergreifung erreichte die wirtschaftliche Depression ihren Tiefpunkt. Somit hätte sich unter jeder neuen Regierung die Wirtschaft nach 1933 verbessert. Wie in einer autoritären Regierung üblich, sorgten Staatsaufträge (Bau der Autobahn) und militärische Aufrüstung für eine gewisse Vollbeschäftigung. In der Propaganda wurde dieses „Wirtschaftswunder“ allein als Erfolg des NS-Regimes dargestellt.

Eine gute Gelegenheit, außenpolitisch Hitler Paroli zu bieten wäre ein Widerstand gegen die Besetzung des Rheinlands von 1936 gewesen. Eine französische Division hätte genügt, um die ca. 22.000 Deutschen Soldaten aufzuhalten und Hitler politisch völlig zu blamieren. Frankreich wollte aber damals nicht ohne Unterstützung Englands handeln, was sehr bedauerlich ist, da das entmilitarisierte Rheinland eine rein französische Forderung in Versailles gewesen war.

Laut Sebastian Haffner hätte es auch ohne Hitler „nach 1933 wahrscheinlich eine Art Führerstaat gegeben. Auch ohne Hitler wahrscheinlich einen zweiten Krieg. Einen millionenfachen Judenmord nicht.“