Das unreife Kaiserreich 1871 – 1914
1878 sagte Otto von Bismarck, der Balkan sei ihm nicht die gesunden Knochen eines einzigen pommerschen Grenadiers wert. Dennoch waren 1918 am Ende des 1. Weltkriegs – ausgelöst durch ein Attentat auf dem Balkan – weltweit 9.442.000 Soldaten, davon ca. 2.037.000 „pommersche“ bzw. deutsche Soldaten, gestorben. Weitere 5.950.000 Zivilisten verloren ihr Leben und die kollabierten Volkswirtschaften sorgten für Hunger und Armut. Die Spanische Grippe mit ca. 50 Millionen Toten weltweit – von US-amerikanischen Soldaten nach Europa mitgebracht – war eine Folge des Krieges. Die Bedingungen des Friedens von Versailles waren eine schwere Hypothek für die neu gegründete Weimarer Republik und ermöglichten einer Clique von ultra-nationalen Rassisten unter der Führung eines österreichischen Gefreiten die Machtübernahme. Das nationalsozialistische III. Reich steuerte direkt auf einen neuen, diesmal ideologischen Krieg zu – mit weiteren 60 Millionen Opfern bis 1945. Wie konnte das alles passieren?
Die Vorgeschichte
Das Heilige römische Reich deutscher Nation kannte keine Deutschen. Es bestand aus Bayern, Brandenburgern, Sachsen und vielen weiteren Fürstentümern. Es gab zwar einen Kaiser aber keine deutsche Nation. In diesem lockeren Staatenbund verfolgte jeder Landesfürst seine eigene Interessen. Allein die Sprache schuf ein Gefühl der Gemeinschaft (trotz einiger harter Dialekte).
Napoleon beendete dieses „tausendjährige“ Reich, indem er 1806 den damaligen Kaiser zum Abdanken zwang. Dieser zog sich nach Wien zurück und war seitdem nur noch der Kaiser von Österreich. Napoleon ordnete als Kaiser der Franzosen die deutschen Fürstentümer nach seinen Vorstellungen und schuf den Rheinbund als Nachfolgestaat unter französischer Hegemonie.
Der deutsche Nationalgeist entstand in den Befreiungskriegen gegen Napoleon. Somit hatte er von Anbeginn eine anti-französische Färbung. Als dann im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 eine deutsche Koalition unter preußischer Führung seinen Neffen, Napoleon III. besiegte, wollte man sich die Kaiserwürde zurückholen und unter einem Kaiser Deutschland vereinen.
Die Idee einer vereinten Deutschen Nation war bereits in der Revolution von 1848 zum Greifen nahe gewesen. Damals begehrten die Bürger erfolgreich gegen die Vormacht des Adels auf. Vom Wunsch eines vereinten Deutschlands getrieben, bot das Parlament in der Paulskirche dem preußischen König die Kaiserkrone an. Ein vereintes Deutschland mit einer parlamentarischen Monarchie sollte entstehen. Doch der preußische König lehnt es ab, die Kaiserkrone aus den Händen von Revolutionären zu empfangen. Er ließ als König von Gottes Gnaden das preußische Militär die März-Revolution niederschießen. Die Idee einer vereinten Nation blieb jedoch lebendig.
Zwischenfazit bis 1848
- Von 962 bis 1806 existierte das „Heilige Römische Reich deutscher Nation“ als feudaler Staatenbund.
- Ein Deutsches Nationalgefühl entstand erst in den Befreiungskriegen gegen Napoleon.
- Es gab die Möglichkeit einer Reichsgründung aus dem Volk heraus, die aber von der damaligen adligen Oberschicht abgelehnt worden ist. Die Deutsche Revolution von 1848/49 gilt deshalb als gescheitert.
1871 – Die Reichsgründung
Als Bismarck preußischer Ministerpräsidenten wurde, hatte er die Idee, den deutschen Nationalismus zu kanalisieren und Deutschland zu einer nationale Einheit unter preußischer Herrschaft zu verhelfen. In den drei Einigungskriegen, für die Bismarck die Gleise gestellt hatte, wurden die letzten Hürden aus dem Weg geräumt:
- 1864 Deutsch-Dänischer Krieg. Die zu Dänemark gehörenden deutschsprachigen Herzogtümer Holstein und Schleswig werden erobert und zwischen Preußen und Österreich aufgeteilt.
- 1866 preußisch-österreichischer Krieg. Entscheidung zugunsten der kleindeutschen Lösung unter preußischer Führung anstatt einer großdeutschen Variante unter Österreich.
- 1871 Deutsch-Französischer Krieg. Die Kriegserklärung Frankreichs vereinigt die Deutschen Fürsten unter preußischer Führung.
Die Proklamation des 2. Deutschen Reiches im Spiegelsaal von Versailles – einem Heiligtum der französischen Nation – war ein bewusster Affront gegen den „Erbfeind“ Frankreich. Die Annexion des teilweise deutschsprachigen Elsass-Lothringen war im Kontext des damaligen Zeitgeist verständlich. Immerhin hatte Frankreich den Deutschen den Krieg erklärt, auch wenn Bismarck mit der provokanten Emser Depesche nachgeholfen hatte. Man wollte Frankreich nachhaltig schwächen, schuf aber damit den Geist der Revanche in Frankreich. Bismarck war gegen die Annexion, konnte sich aber nicht gegen das Militär durchsetzen, das auf einen westlichen Puffer mit zwei Festungsstädte (Metz & Strasbourg) nicht verzichten wollte.
Interessant ist hierbei ein Vergleich zu dem Frieden von 1866, der nur fünf Jahre vorher zwischen Preußen und Österreich ohne Reparationszahlungen und territoriale Gewinne geschlossen wurde. Einerseits wollte man direkt nach dem Konflikt wieder freundschaftliche Bände nach Wien knüpfen. Andererseits forderte der französische Kaiser Napoleon III. nach der Schlacht bei Königgrätz für sein Stillhalten eine territoriale Entschädigung (Köln, Trier u.a.), weshalb Bismarck zu einem schnellen Friedensschluss mit Österreich-Ungarn drängte.
Elsass-Lothringen wurde umständlich als „Reichsland“ eingegliedert, jedoch wurde man im frisch gegründeten Deutschen Reich mit den Einwohnern dieser neuen Provinz nicht wirklich warm. Beleg hierfür ist die Zabern-Affäre, in der Elsässer und Lothringer vom preußischem Militär schikanierten wurden. Die Annexion kannte also nur Verlierer und war zugleich eine schwere Hypothek für die Deutsch-Französische Beziehung.
Die Regierungsform der konstitutionellen Monarchie war auf den Machterhalt des preußischen Königs und Kaisers zugeschnitten. In allen militärischen Angelegenheiten entschied der Monarch allein, lediglich beraten durch sein Militärkabinett, das sich zu einer Art Nebenregierung entwickelte. Der Kaiser allein bestimmte als oberster Kriegsherr über Heer und Marine, entschied über Krieg und Frieden, setze Reichsbeamte ein, ernannte den Reichskanzler etc. Eine ziemliche Machtfülle, die dem Monarchen eine gewisse Reife abverlangte.
Somit war die Monarchie zwar an die Verfassung gebunden; insoweit war sie konstitutionell. Aber sie besaß in der kaiserlichen Kommandogewalt einen harten extrakonstitutionellen Kern.
Volker Ullrich in „Die nervöse Grossmacht: Aufstieg und Untergang des deutschen Kaiserreichs 1871-1918“
Die Konsequenzen der Reichsgründung für Europa brachte der englische Premierminister Benjamin Disraeli in seiner Rede vom 9. Februar 1871 vor dem englischen Unterhaus auf den Punkt: „Das Gleichgewicht der Kräfte sei vollständig zerstört worden.“
Das hier gemeinte Gleichgewicht war das Ergebnis des Wiener Kongresses von 1815, in dem die Machtverhältnisse Europas nach den napoleonischen Kriegen neu geregelt wurden. Relevant für London war hierbei das Gleichgewicht der Kräfte bzw. die britische Doktrin der „Balance of Power“ – das Vermeiden der Entstehung einer starken Kontinentalmacht, die ihrer Machtposition gefährlich werden könnte.
Abb. 1: Europa 1789 (linke Karte) und 1914 (rechte Karte) – Im Zentrum entsteht ein neuer Machtblock
Zwischenfazit bis 1871
- Die Deutsche Reichsgründung entsprach zwar dem nationalen Zeitgeist, wurde von Bismarck aber quasi im Alleingang mit „Blut und Eisen“ verwirklicht. Der militärische Beitrag zur Reichsgründung verhalf dem Militär zu einer herausragenden Rolle im zukünftigen Deutschen Reich.
- Die Annexion von Elsass-Lothringen war falsch. Frankreich bot damals sogar Kolonien in Asien als Kompensation an – daran hätte das Deutsche Reich wahrscheinlich mehr Freude gehabt.
- Die geostrategische Lage Deutschlands ist ungünstig für eine Großmacht. Als lockerer Staatenbund konnte man Bewegungen an der Peripherie des Reiches ausbalancieren. Das vereinte Deutsche Reich war mit den Worten von Sebastian Haffner „wie ein Betonklotz aus dem Kanonenrohre ragen.“
Bismarcks Friedenspolitik
Als Reichsgründer von 1871 wusste Bismarck sehr genau, dass mit dem Deutschen Reich ein neuer Tänzer auf dem europäischen Parkett auftrat, der das alte Machtgefüge aus dem Tritt brachte. Entsprechend dezent wollte er auftreten. Nach der umstrittenen Annexion Elsass-Lothringen unterstrich Bismarck, dass das Deutsche Reich saturiert sei und keine territorialen Forderungen habe. Er suchte einen Ausgleich mit den anderen europäischen Mächten und eine diplomatische Isolation Frankreichs, um den französischen Revanchismus einzugrenzen.
Noch lieber hätte sich Bismarck eine Versöhnung mit Frankreich gewünscht. Zu einem französischen Diplomaten soll er gesagt haben: „Ich strebe es an, dass sie uns Sedan genauso verzeihen wie Waterloo.“ (Fabre-Luce S. 113). Frankreichs Narzissmus war jedoch nachhaltig verletzt und man wollte sich nicht aussöhnen, solange Elsass-Lothringen nicht wieder zu Frankreich gehörte.
Aufgrund der geographischen Lage Deutschlands zwischen dem revanchistischem Frankreich und dem gewaltigen Zarenreich, war es Bismarck besonders wichtig, eine Einkreisung durch diese beiden Mächte zu vermeiden. Daher war eine gute Beziehung zu Russland entscheidend. Das Zarenreich wetteiferte jedoch mit Österreich-Ungarn auf dem Balkan um die Vormacht, was zu Spannungen führte.
Im Berliner Kongress von 1878 wollte Bismarck als fairer Vermittler auftreten, um die Friedensabsichten des Deutschen Reiches zu unterstreichen. Russland hatte das Osmanische Reich im Krieg von 1877/1878 besiegt und die europäischen Mächte bangten nun um ihre Interessen im Östlichen Mittelmeer (England) und auf dem Balkan (Österreich-Ungarn). Zwischen Russland und Preußen bestanden seit den Zeiten Fritz des Großen freundschaftliche Beziehungen. Deshalb hatte auch das Zarenreich während der Einigungskriege Preußen den Rücken frei gehalten und erwartete dafür nun ein Entgegenkommen. Bismarck hingegen wollte die Neutralität des Deutschen Reiches hervorheben.
Das Ergebnis war, dass Russland trotz des gewonnen Krieges nur sehr wenig zugestanden bekam. England konnte Russland aus dem östlichen Mittelmeer heraushalten, da der Bosporus in türkischer Hand blieb und Österreich-Ungarn bekam sogar die Erlaubnis, die osmanische Provinz Bosnien-Herzegowina mit der Hauptstadt Sarajevo zu besetzen. Das gute Verhältnis zwischen Russland und Preußen war zerstört. Moskau war enttäuscht von Berlin, insbesondere als Bismarck nur ein Jahr später 1879 ein Bündnis mit dem russischen Rivalen Österreich-Ungarn schloss. Dies trieb Russland unweigerlich in die Richtung Frankreichs – wie ein Pol der einen Gegenpol braucht, musste Russland diesem „teutonischen“ Bündnis etwas entgegensetzen.
Trotz des Bündnisses mit Österreich-Ungarn vollführte Bismarck nun einen diplomatischen Salto und schloss 1887 mit Russland einen Rückversicherungsvertrag, der bei einem Kriegsfall wohlwollende Neutralität des jeweils Anderen versprach und somit einen Zweifrontenkrieg des Deutschen Reiches ausschloss. Dies widersprach zwar dem Sinn des Bündnisses mit Österreich-Ungarn, verringerte aber die Gefahr einer Einkreisung. Russland war damals abhängig von ausländischen Krediten, um den Prozess der Entwicklung von einem Agrarstaat zu einer Industrienation zu beschleunigen. Diese Kredite bezog es zu einem großen Teil aus dem Deutschen Kaiserreich. Mit einer initiierten Kreditkrise wollte daher Bismarck Russland davon überzeugen, dass es auf das Deutsche Reich und seine Kredite angewiesen ist. Dieses Zuckerbrot und Peitsche Spiel ging jedoch nach hinten los, da sich Russland einfach die nötigen Kredite in Paris holte, das bereitwillig die Kasse öffnete. Die befürchtete Einkreisung durch ein russisch-französisches Bündnis begann sich abzuzeichnen.
Frankreich investierte nicht nur in Russland sondern, auch in die eigene Aufrüstung, weshalb der preußische Generalquartiermeister von Waldersee die Idee eines Präventivkriegs gegen Frankreich ins Gespräch brachte. Bismarck konterte trocken, Ziel seiner Politik sei die Vermeidung eines Krieges, „in dem Deutschland nichts gewinnen, aber alles verlieren könne.“ Bismarck gelang es, ein Gegengewicht zu der dominanten Stellung des Militärs zu bilden. Hier zeichnete sich aber bereits ein innenpolitischer Interessenkonflikt ab.
Mit dem neuen Selbstbewusstsein eines vereinten Deutschen Reiches wurden ab 1882 die Rufe nach deutschen Kolonien lauter. Als Bismarck von dem Afrikaforscher Eugen Wolf eine Karte mit skizzierten deutschen Kolonien vorgelegt wurde, konterte er, dass seine Karte von Afrika in Europa liege: „Ihre Karte von Afrika ist ja sehr schön, aber meine Karte von Afrika liegt hier in Europa. Hier liegt Russland, und hier liegt Frankreich, und wir sind in der Mitte; das ist meine Karte von Afrika.“ Ein Ausgleich mit den anderen Großmächten war ihm wichtiger als einige Landstreifen in Afrika. Dieses Zitat unterstreicht die außenpolitische Weitsicht Otto von Bismarcks.
Innenpolitisch wurde jedoch das von ihm geeinte Deutsche Reich gespalten. Bismarcks stetiger innenpolitischer Kampf gegen vermeintliche Reichsfeinde (Sozialdemokraten, Minderheiten, Kulturkampf mit den Katholiken) sorgte für Unruhe, bescherte aber auch dem Kaiserreich eine demokratische Tendenz sowie Sozialgesetze (Krankenversicherung, Unfallversicherung), die bis heute Geltung haben.
Zwischenfazit bis 1888
- Bismarcks Außenpolitik isolierte das unversöhnliche Frankreich und war bestrebt, die Interessen der anderen Großmächte auszubalancieren.
- Sein Ziel war die Vermeidung eines neuen Krieges, in dem Deutschland nichts gewinnen, aber alles verlieren konnte.
- Das von Bismarck entwickelte Bündnissystem war jedoch so kompliziert, dass es auch einen Bismarck benötigte, um zu funktionieren.
1888 – Der alter Kanzler und der junge Kaiser
Dem greisen Kaiser Wilhelm folgte 1888 sein Sohn Friedrich III, der nach nur 99 Tagen auf dem Thron an einer Krankheit verstarb. Dessen Sohn, Wilhelm II. wurde mit 29 Jahren deutscher Kaiser. Wilhelm Zwo, dessen linker Arm gelähmt war, hatte keine einfache Kindheit. Seine Mutter empfand diesen Makel als ihre Schuld und ließ den jungen Thronfolger diverse Behandlungen erleiden. Das Ergebnis war ein hyperaktiver Thronfolger, der sein Leiden durch großspuriges Auftreten überdecken wollte. Nicht die ideale Besetzung als Kaiser. Nach nur zwei Jahren entlässt Wilhelm Zwo Bismarck als Reichskanzler.
Abb. 2: 1890 – Entlassung Bismarcks „Der Lotse geht von Bord“
Wilhelm Zwo führte ein „Persönliches Regime“ ein und tritt gern als absoluter Herrscher auf, obwohl er Regent einer konstitutionellen Monarchie ist. Die Rolle des Kanzlers wurde zunehmend unbedeutend, da Wilhelm Zwo – anders als sein Großvater – gern alles selbst entscheiden wollte. Sein Hofstaat bestand zum großen Teil aus Opportunisten und Schmeichlern, die mit rosigen und protzigen Worten Einfluss auf den Kaiser nahmen.
Besonders gern bewegte er sich im militärischen Milieu, in dem kernige und großspurige Sprüche gut ankamen. So nahm er zum Beispiel die Idee eines Präventivkriegs gegen Frankreich gern auf. Er halte »einen europäischen Krieg für kaum vermeintlich«, notierte er Anfang Mai 1886 in sein Tagebuch; die Chancen, diesen Krieg zu gewinnen, seien um so besser, »je früher er kommt«.
Seine Begeisterung für alles Moderne stand in krassen Gegensatz zu seinem absolutistischen Gehabe. Von klein auf begeisterte er sich für Marineschiffe und war somit sehr empfänglich für die Ideen des Admirals von Tirpitz, der die deutsche Flotte massiv ausbauen wollte.
Hinter der Begeisterung des jungen Kaisers bezüglich eines Präventivkriegs sowie der Flottenaufrüstung lag aber weniger eine langfristige Strategie, sondern vielmehr die begeisterungsfähige, impulsive und manchmal auch etwas infantile Persönlichkeit Wilhelm II.
1890 – Der neue Kurs
Bereits Mitte der achtziger Jahre regte sich im Auswärtigen Amt Widerstand gegen Bismarcks Außenpolitik. Friedrich von Holstein, der später als graue Eminenz die Richtung der deutschen Außenpolitik vorgeben sollte, vertrat eine anti-russische Ausrichtung und wollte statt dessen eine eindeutige Bindung an Österreich-Ungarn.
In der Konsequenz daraus wurde der Rückversicherungsvertrag mit Russland 1890 nicht verlängert, obwohl Russland Interesse signalisierte und auch der Kaiser zuerst für eine Verlängerung war.
Der neue Kanzler von Caprivi wollte die komplizierte Bündnispolitik Bismarcks entwirren und überzeugte den Kaiser davon, dass es sinnvoller sei, das Deutsche Reich nicht unnötig an Russland zu binden. Zugleich bekenne man sich somit eindeutig zu dem Bündnispartner Österreich-Ungarn. Russland, bereits irritiert von der Kreditkrise, wurde nun endgültig in die Arme von Frankreich getrieben. Eine Abkehr von der ungeliebten Außenpolitik Bismarcks entsprach dem damaligen Zeitgeist, jedoch schien niemand die Gefahr einer russischen-französischen Annäherung wahrgenommen zu haben.
Am 5. August 1892 schlossen Frankreich und Russland eine zunächst geheime Militärkonvention, die 1894 zu dem Zweibund erweitert wurde. Nur vier Jahre nach Bismarck wurde das Schreckgespenst der Einkreisung lebendig.
Im neuen außenpolitischen Kurs sollten nun andere Mächte über Handelsverträge an Deutschland gebunden werden. Es wurden eine Reihe von Handelsabkommen abgeschlossen, mit denen Deutschland neue Absatzmärkte erschloss und sich schrittweise zu einer industriellen Exportnation entwickelte. Diese Handelsverträge ersetzen jedoch nicht die Stabilität der russischen Rückversicherung. Außerdem verunsicherte die wachsende Wirtschaftsmacht Deutschlands den bisherigen Exportweltmeister: England.
Aber eben mit England wollte Friedrich von Holstein ein Bündnis eingehen. Zwar kommt es 1890 zur Abgrenzung der kolonialen Interessen und dem Sansibar-Helgoland Vertrag. 1891 besuchte Wilhelm Zwo sogar England und wird dort freudig begrüßt. Die englische Presse ist voller Lob auf den Kaiser und das Deutsche Reich. Ein Bündnis war naheliegend, zumal Englands und Russlands Interessensphären in Zentralasien kollidierten. Dies mag auch ein Grund für eine Abkehr von Russland und dem Rückversicherungsvertrag gewesen sein. Jedoch hatte England kein Interesse an einer einseitigen Bindung an das Deutsche Reich. Zumal der massive Flottenaufbau sowie die rasant steigende Wirtschaftsmacht Deutschlands die Engländer irritierte. Um 1900 überholte das Deutsche Reich sogar England als Exportnation und nahm hinter den USA den zweiten Platz der größten Volkswirtschaften ein.
Im Gegensatz zu Bismarcks Realpolitik, die sich eng an den als real anerkannten Bedingungen und Möglichkeiten orientierte, ging von Holstein eine außenpolitische Wette ein. Und zwar auf einen Konflikt zwischen dem Britischen Empire und dem Russischen Zarenreich, der früher oder später in Fernost an den sich überlappenden Interessensphären ausbrechen werde. Dann würde sich für das Deutsche Reich die Politik der „freien Hand“ auszahlen. Man könne – je nachdem welche Partei die Oberhand gewinnt – auf den fahrenden Zug aufspringen und die eigene Machtposition ausbauen. Ein fernöstliche Konflikt sollte später tatsächlich ausbrechen, jedoch zwischen Japan und Russland. England klärte seine Differenzen mit Russland auf diplomatischen Wege und die Wette ging nicht auf. Das Deutsche Reich hatte sich weiter isoliert.
Zwischenfazit bis 1890
- Durch die Nicht-Verlängerung der Rückversicherung wurde Russland nun endgültig in die Arme Frankreichs getrieben, das bereits zum größten Kreditgeber Russlands aufgestiegen war.
- Der wirtschaftliche Erfolg und ein starker Anstieg der deutschen Bevölkerung von 1890 an sorgen für eine gewisse Skepsis der anderen Großmächte.
- Eine engere Englisch-Deutsche Zusammenarbeit wurden wegen der Flotten- und Kolonialpolitik des Kaiserreiches erschwert.
Kaiserdämmerung
Abb. 3: Wilhelm II. als das ungestüme Kind, das das Boot zum kentern bringt.
Nach dem Abgang von Caprivi als Reichskanzler in 1894 begann ein Zickzack-Kurs in der deutschen Diplomatie und entsprach somit dem sprunghaften Gemüt des Kaisers. Zwar wurde weiterhin ein Bündnis mit England angestrebt, das aufgrund der englisch-russischen Differenzen in Asien – auch bekannt als The Great Game – gar nicht so abwegig war. Aber England zog es vor, sich keiner festen Bindung hinzugeben. Diese Prinzip der splendid isolation (wunderbaren Isolation) wurde durch die einzigartige geographische Lage der britischen Insel begünstigt. So konnte das Britische Empire von außen die Mächte auf dem Kontinent zu beobachten und gelegentlich einzugreifen, wenn die Balance der Macht zu sehr in die eine oder andere Seite tendierte. Ziel dieser smarten Politik war die Vermeidung der Entstehung einer großen Kontinentalmacht, welche dem britischen Kolonialreiches gefährlich werden könnte.
Ebenfalls wenig hilfreich für eine Annäherung an England waren diplomatische Fettnäpfchen, die sich der Kaiser bzw. das Deutsche Reich leisteten:
- 1896 Krüger Depesche Wilhelm II. gratuliert den Burenstaat für die Abwehr einer britischen Intervention und brüskiert damit England.
- 1897 Ein Platz an der Sonne Rede im Reichstag richtete die deutsche Außenpolitik auf einen Kollisionskurs mit den etablierten Kolonialmächten aus.
- Zur Eröffnung des Freihafens in Stettin 1898 sagt der Kaiser: „Unsere Zukunft liegt auf dem Wasser„. Im selben Jahr verabschiedet der deutsche Reichstag das erste deutsche Flottengesetz.
- 1900 die martialische Hunnenrede des Kaisers bei der Verabschiedung des deutschen China-Expeditionskorps, welche den Deutschen den Spitznamen „Huns“ beibrachte.
Wilhelm Zwo führte sich wie ein Halbstarker unter Erwachsenen auf. Eigentlich belustigend, jedoch stand hinter ihm die größte Feldarmee Zentraleuropas und die nach den USA stärkste Wirtschaft. Einen krasseren Gegenkurs zu Bismarcks Ausgleichs-Diplomatie hätte man nicht fahren können. Ludwig Quidde veröffentlichte 1894 sein Werk Caligula. Eine Studie über römischen Cäsarenwahnsinn, was nicht anderes war, als eine spitzfindige satirische Personenbeschreibung Wilhelms II.
Laut dem Individualpsychologen Alfred Adlers litt Wilhelm II. aufgrund seines verkrüppelten Arms an einem Minderwertigkeitskomplex. Diese Minderwertigkeit wollte er durch ein besonders harsches Auftreten kompensiert oder gar mit einem Deutschen Kaiserreich als Weltmacht über-kompensieren, was sein politisches Verhalten vor dem Ausbruch des 1. Weltkriegs erklärt.
Exkurs: Frankreichs Kreditpolitik
Während im Deutschen Reich Wilhelm Zwo seinem prahlerischem Absolutismus frönte, hatte der französische Ministerpräsident Raymond Poincaré die offene Revanche nicht vergessen.
Frankreich sprang bereitwillig als Kreditgeber ein, als sich Russland nach neuen Finanzquellen für seine schnell wachsende Wirtschaft umsah. Das rasante wirtschaftliche Wachstum des rohstoffreichen Zarenreiches versprach hohe Renditen. Poincaré lenkte aber persönlich in seinen Besuch in Petersburg am August 1912 die französischen Investitionen in den Ausbau der Bahngleise. Die 2.5 Millionen starke russische Armee sollte Dank der neuen Zugverbindungen schleunigst bei Bedarf an die Deutsche und Österreichische Grenze verlegt werden können.
Serbien wurde ebenfalls mit französischen Krediten aufgerüstet und verfügte für seine bescheidene Größe über eine schlagfertige Armee, was es in den beiden Balkankriegen bewies. Allein 1914 wird Serbien eine neue französische Anleihe gewährt, die doppelt so hoch ist, wie der serbische Staatshaushalt von 1912.
Somit wurden Russland sowie Serbien für die französischen Interessen eingespannt. Frankreich konnte im Bedarfsfall auf die militärischen Ressourcen dieser beiden Staaten zählen, da diese mit französischen Krediten bezahlt worden waren.
Von Moltke (der Ältere) bezeichnete die französischen Kredite an Russland als: „einen der vernichtendsten strategischen Schläge, die Frankreich seit dem Krieg 1870/71 gegen uns geführt hat.“
1897 – Politik der freien Hand und Flottenaufbau
Am 6. Dezember 1897 hielt der neue Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Bernhard von Bülow im Reichstag eine Rede, die besondere Aufmerksamkeit erregten:
Die Zeiten, wo der Deutsche dem einen seiner Nachbarn die Erde überließ, dem anderen das Meer und sich selbst den Himmel reservierte, wo die reine Doktrin thront – diese Zeiten sind vorüber … Mit einem Worte: Wir wollen niemanden in den Schatten stellen, aber wir verlangen auch unseren Platz an der Sonne.
Reichskanzler Bernhard von Bülow
Bülows Rede markierte eine weitere Neuausrichtung in der deutschen Außenpolitik. Das Kaiserreich verließ die von Bismarck fokussierte Kontinentalpolitik und verfolgt nun eine expansionistische Weltpolitik. Man wollte zu den etablierten Kolonialmächten aufschließen, dabei aber auch niemanden „in den Schatten stellen“. Es ging also nicht um Weltherrschaft, sondern um eine imperiale Ausrichtung ähnlich der anderen Großmächte.
Es begann ein hektisches Treiben auf der Suche nach einem Fleckchen Erde, auf dem noch keine Fahne wehte. Unter den etablierten Kolonialmächten war somit das Deutsche Reich der zu spät gekommene Parvenü, der überall für Unruhe sorgte. Die deutsche Außenpolitik verfolgte dabei keine Strategie sondern zeichnete sich aus durch „hektischen Aktivismus, gepaart mit notorischer Unberechenbarkeit.„ (Zitat von Volker Ullrich, Eine nervöse Großmacht).
Mit Deutsch-Südwestafrika und einigen anderen Regionen in Afrika besaß das Deutsche Reich bereits seit 1884 einige Kolonien – meistens auf der Grundlage von bestehenden Handelskontoren, die nun staatlich geschützt wurden. Schnell wurde deutlich, dass der Unterhalt der Kolonien mehr kostete als sie einbrachten. Auch die Idee, den Bevölkerungsüberschuss des Deutschen Reiches dorthin abwandern zu lassen, ging nicht auf. Leider war das Klima in der Regel zu gewöhnungsbedürftig. Insgesamt wanderten nur 24.000 deutsche Siedler in die Kolonien aus. Dennoch waren im Vergleich zu den anderen Großmächten England und Frankreich die kolonialen Ambitionen Deutschlands vergleichsweise mager. Der Griff nach Kolonien widersprach jedoch Bismarcks Definition eines „sautierten“ Deutschen Reiches.
Um den angestrebten Platz an der Sonne auch beschützen zu können, sollte die Flottenaufrüstung forciert werden. Von Tirpitz schrieb in einer Denkschrift vom Juli 1897:
Für Deutschland ist zur Zeit der gefährlichste Gegner zur See England. Es ist auch der Gegner, gegen den wir am dringendsten ein gewisses Maß an Flottenmacht als politischer Machtfaktor haben müssen.
Admiral von Tirpitz
Beim Antritt von Tirpitz verfügte das Deutsche Reich über nur sechs Kriegsschiffe, obwohl es die zweit größte Handelsmacht war. Statt aber maßvoll die Flotte auszubauen, wurde durch das Diktat des Militär ein Wettrüsten mit England vom Zaun gebrochen, ohne dabei die diplomatischen Konsequenzen zu bedenken.
Während Bismarck und sein Nachfolger Caprivi noch einen Ausgleich oder gar ein Bündnis mit England gesucht haben, bezweckte die koloniale Weltpolitik und der Ausbau der deutschen Flotte das genaue Gegenteil. Ziel war keine direkte Konfrontation, jedoch sollte Dank eine starken Flotte die Position am Verhandlungstisch gestärkt werden. Es war eine sehr simple Form der Diplomatie die im krassen Gegensatz zu der kreativen Außenpolitik zur Zeit Bismarcks stand. Scheinbar fühlte man sich stark genug, um bei der Durchsetzung der eigenen Ziele auf die Gefühle der anderen keine Rücksicht mehr nehmen zu müssen.
Mit dem Beginn des Baus der Bagdadbahn 1898 im Osmanischen Reich wollte das Deutsche Reich die Möglichkeit einer Landverbindung unter Umgehung der englischen Seeherrschaft zu den Ölquellen im Iran/Irak schaffen. Auch wenn der Bau dieser Bahn eine sinnvolle Idee war, kollidierte man hier mit den Interessen Russlands (Bosporus) und Englands (Persien).
Ende März 1898 ergab sich dennoch eine Möglichkeit der Verständigung mit England, das sich ob seiner Differenzen mit Frankreich in Nordafrika und mit Russland in Ostasien plötzlich einen soliden Partner auf dem Kontinent wünschte. England wollte seine splendid isolation aufgeben und sich dem Dreibund annähern. In Berlin war man jedoch daran nicht interessiert. Vielmehr wurde am 28. März im deutschen Reichstag im Flottengesetz den Aufbau einer Hochseeflotte beschlossen und somit ein Wettrüsten mit Großbritannien ausgelöst.
Man sah sich in der Position der Stärke. Den gegen England gerichteten Flottenausbau voranzubringen schien sinnvoller als ein Bündnis mit Großbritannien einzugehen. Bernhard von Bülow überzeugte als außenpolitischer Staatssekretär den Kaiser davon, sich an keine der beiden (seiner Meinung nach tief verfeindeten) Mächte Russland oder England zu binden und somit freie Hand zu haben. Sollten sich zwei streiten, würde man als glücklicher Dritter die Früchte einsammeln. Am 17. Oktober 1900 wurde Bernhard von Bülow vom Kaiser zum Reichskanzler ernannt.
Die Erwartungen jedoch, dass sich der russische Bär und der britische Löwe irgendwo in Fernost, Persien oder Afghanistan gegenseitig an die Gurgel gehen würden, wurden vorerst nicht erfüllt.
Im Januar 1901 streckte die britische Regierung nochmals die Fühler nach Berlin aus, um die Möglichkeit einer Zusammenarbeit zu sondieren. England hatte den holländischen Buren-Freistaat besetzt, der über reiche Diamanten und Goldressourcen verfügte. Um den Widerstand der Buren zu brechen, wurden die Familien der Siedler in Lagern konzentriert. England geriet wegen des Krieges international in die Kritik woraufhin der englischer Kolonialminister Joseph Chamberlain einen relativierenden Vergleich zu anderen Kriegen zog, darunter auch dem Deutsch-Französischen Krieg von 1871. Nach einiger Aufregung über diesen Vergleich in Deutschland, antwortete von Bülow recht brüskiert: „Lasst den Mann gewähren und regt euch nicht auf. Er beißt auf Granit.“ Der negative Effekt dieser „Granit-Rede“ auf England war ähnlich stark wie die Krüger Depesche von 1896. In London reifte die Erkenntnis, dass man mit dem Deutschen Reich auf keinen gemeinsamen Nenner kommen konnte.
Ein Zitat von Max Weber aus dem Jahre 1895 – fünf Jahre nach dem Abgang Bismarcks und zwei Jahre vor der „Platz an der Sonne Rede“ fasst den damaligen Zeitgeist des Kaiserreiches gut zusammen.
„Wir müssen begreifen, dass die Einigung Deutschlands ein Jugendstreich war, den die Nation auf ihre alten Tage beging und seiner Kostspieligkeit halber besser unterlassen hätte, wenn sie der Abschluss und nicht der Ausgangspunkt einer deutschen Weltmachtpolitik sein sollte.”
Max Weber, 1895
In anderen Worten: Solange ein vereintes Deutschland keine Ausgangsbasis für Weltmachtansprüche ist, hätte man lieber auf die Reichsgründung verzichten sollen.
Nachdem Bismarck die deutsche Einheit gelungen war und er diese durch eine defensive Außenpolitik abgesicherte hatte, war Deutschland endlich am Ziel seiner langen Reise zum stabilen Einheitsstaat. Allerdings sehnten sich auch die Eliten des vereinten Kaiserreiches nach Ruhm und Geltung. Diese Forderung nach Geltung in der Welt mündete in der Weltpolitik und dem Wunsch nach einem deutschen Kolonialreich analog zu dem Britischen Empire.
Zwischenfazit bis 1901
- 1898 bis 1901 wird die Chance einer Annäherung bzw. eines Bündnisses mit England vertan.
- Von Bülow und von Holstein: Politik der freien Hand statt wie Bismarck auf ein Netz aus Bündnissen zu setzen.
- Von Tirpitz: Flottenausbau um jeden Preis. Das Lieblingsprojekt von Wilhelm II. wandte sich am Ende gegen ihn, als im Kieler Matrosenaufstand am 3. November 1918 die Revolution ausbrach.
- Weltpolitik: Ein Platz an der Sonne aus Prinzip, auch wenn Kolonien mehr kosten, als sie einbringen.
1901 – 1909 Dreibund und Entente
Im März 1902 konstatiert Friedrich von Holstein selbstbewusst: „Für uns liegt, soweit sich jetzt erkennen läßt, kein Grund vor, die Politik der freien Hand aufzugeben.“ Tatsächlich hatte sich die außenpolitische Lage für Deutschland drastisch verschlechtert. Italien – eigentlich im Dreibund mit Deutschland und Österreich in einem Defensivbündnis vereint – hatte in bilateralen Verhandlungen mit Frankreich die gegenseitigen Interessensphären in Nordafrika abgesteckt und schloss dazu eine Vereinbarung strikter Neutralität, insofern Frankreich zur Verteidigung seiner Ehre oder Sicherheit dem Deutschen Reich den Krieg erklärt. Für Italien wogen die Gegensätze mit Österreich-Ungarn mehr als die gemeinschaftlichen Absichten des Dreierbundes.
England, dem das Deutsche Reich die kalte Schulter gezeigt hatte, hielt nach anderen Partnern Ausschau. Im Januar 1902 schloss es mit Japan ein Defensivbündnis. In Berlin nahm man an, dies sei das Vorspiel eines Konflikts mit Russland, von dem das Deutsche Reich nur profitieren könne. Jedoch war es ein Auftakt der Neuausrichtung der englischen Außenpolitik. Nach dem Burenkrieg, in dem in englischen Konzentrationslagern ca. 20.000 Menschen gestorben waren, wollte England seine Politik der Isolation aufgeben und die Wogen glätten. In diesem Zuge einigte man sich mit Frankreich ab 1903 über koloniale Streitfragen in Nordafrika. Diese Gespräche mündeten im Abschluss der Entente Cordiale am 8. April 1904 – einem direkten Bündnis zwischen Frankreich und England.
Das Deutsche Kaiserreich hatte sich außenpolitisch völlig verspekuliert und war nun tatsächliche – überwiegend selbst verschuldet – isoliert und eingekreist. Nach dem Zweibund zwischen Frankreich und Russland von 1894 bestand nun zusätzlich ein Bündnis zwischen Frankreich und England. Die Politik Bismarcks mit dem Ziel einer Isolation Frankreichs hatte sich 14 Jahre nach seinem Rücktritt völlig umgekehrt.
1905 – Marokkokrise und das Ende der Deutschen Diplomatie
Nach dem russisch-japanischen Krieg 1904/05, der für den Zaren in einer militärischen Katastrophe endete, wurde in Berlin der Gedanke eines Präventivkrieg gegen Frankreich wieder lebendig. Die gegenwärtige Schwäche Russland ausnutzend, sollte mit einem schnellen Sieg über Frankreich der außenpolitische Ring, der sich um das Deutsche Reich geschlossen hatte, aufgesprengt werden. Hierfür wurde der Schlieffenplan erarbeitet, der zuerst die Bezeichnung „Angriffskrieg gegen Frankreich“ trug. Am Ende verzichteten von Bülow und von Tirpitz auf den Waffengang. Aus Angst davor, dass die britische Flotte die Chance nutzt, um die noch unfertige deutsche Flotte auszuschalten.
Statt dessen wollte man auf dem außenpolitischen Parkett auftrumpfen und in der Konferenz von Algeciras die Marokko-Frage klären. Frankreich beabsichtigte einen schrittweise Kolonisierung des unabhängigen Marokkos, weshalb das Deutsche Reich eine internationale Konferenz einforderte. Die Hoffnung war, gemeinsam mit den anderen Konferenzteilnehmern Frankreich in seine Schranken zu weisen. Statt dessen wurde jedoch dem Deutschen Reich vorgeführt, wie sehr es außenpolitisch bereits im Abseits stand. Es erhielt nur von Österreich-Ungarn Rückendeckung. Die Konferenz endete mit einer diplomatischen Niederlage Deutschlands.
England war spätestens 1905/06 klar geworden, dass der deutsche Flottenausbau sich primär gegen die britische Weltmachtposition richtete. Sie reagierte auf die Herausforderung mit dem Bau einer neuen Schlachtschiff-Klasse, der Dreadnought. Ca. zehn Jahre, nachdem Tirpitz den Flottenausbau forciert hatte, zeichnete sich sein Scheitern ab. Das Wettrüsten mit England war nicht zu gewinnen. Zum einen hätte das Deutsche Reich einen enormen Rückstand aufholen müssen und zum anderen wurde es immer schwieriger, die immensen Budgets durch den Reichstag zu bekommen, während England sein Wettrüsten durch eine direkte Besteuerung decken konnte.
Das einzige Ergebnis des Flottenwettrüstens war, dass sich die Spannungen zwischen England und Deutschland verschärften. Und am 31. August 1907 geschah, was die wilhelminische Politik für unmöglich gehalten hatte: England und Russland einigten sich über eine Abgrenzung der Interessensphären in Asien. Mit der russisch-englischen Konvention von 1907 hatte sich die Entente cordiale zur Triple-Entente erweitert.
Der Begriff der „Einkreisung“ machte im Deutschen Reich die Runde, doch war dieser „hausgemacht, provoziert durch die eigene prestigesüchtige Welt- und Flottenpolitik.“ (Volker Ullrich, Die Nervöse Großmacht).
1908 – Bosnien, Führungs- und Finanzkrise
Das Jahr 1908 brachte drei prägende Momente:
- Die Bosnien-Krise im Herbst 1908. Österreich-Ungarn annektierte ohne besondere Rücksprache mit den anderen Mächten die seit dem Berliner Kongress besetzte, ehemalige osmanische Provinz Bosnien. Sehr zum Ärger von Russland und insbesondere Serbien, das direkt mit Krieg drohte. Statt zwischen den Parteien zu vermitteln, stellte sich das Deutsche Reich hinter Österreich und zwang Russland dazu, Serbien zurückzupfeifen. Dies war der erste Blankoscheck an Wien. Der Zar war nach dem verlorenen Krieg gegen Japan und der russischen Revolution von 1905 noch militärisch geschwächt und gab klein bei. Berlin und Wien hatten zwar einen diplomatischen Sieg errungen, in Moskau begann jedoch die militärische Aufrüstung – ein zweites „Bosnien“ sollte es nicht geben. Dies sollte sich später in der Juli-Krise von 1914 bewahrheiten.
- Die Daily Telegraph Affäre entzweite den Kaiser und seinen Kanzler von Bülow. Hintergrund war ein delikates Interview des Kaisers, das ohne Prüfung durch die Pressestelle bzw. durch von Bülow (der im Urlaub weilte), in der englischen Presse gedruckt wurde. Der Kaiser plauderte darin über Staatsgeheimnisse und sorgte somit für Aufsehen in Deutschland. Die Baronin Spitzemberg notierte hierzu am 1. November 1908: „Etwas derartiges an sträflicher Lumperei, gewissenlosem Leichtsinn ist wohl je nicht da gewesen und wohl geeignet, das schon so erschütterte Vertrauen in unsere politische Leitung ganz zu zerstören“.
- Im August 1908 hatte von Bülow angesichts der chronischen Finanznot an von Holstein geschrieben: „Wir können nicht gleichzeitig das erste Heer der Welt haben … die großzügigste und kostspieligste Sozialpolitik unter allen Völkern treiben und eine Risikoflotte bauen und erneuern.“ Es fehlten ca. 500 Millionen Reichsmark in der Staatskasse. Zwar wurden neue Verbrauchsteuern eingeführt, um die gröbsten finanziellen Löcher zu stopfen, aber die Finanzkrise von 1908 hatte deutlich gezeigt, dass sich das Deutsche Kaiserreich mit der Flottenaufrüstung verhoben hatte.
Von Bülow Amtszeit als Reichskanzler lief ab. In der Bilanz war nun das Deutsche Reich außenpolitisch völlig isoliert und die (Welt)Politik der freien Hand war gescheitert. Wilhelm II hatte bei der Ernennung von Bülows zum Reichskanzler gesagt, er werde sein zweiter Bismarck werden – er wurde das genaue Gegenteil.
1909 bis 1911 – Die 2. Marokkokrise und der Weg zum Krieg
Als Theobald von Bethmann Hollweg im Juni 1909 Reichskanzler wurde, war der Alptraum Bismarcks wahr geworden. Das revanchistische Frankreich hatte eine Koalition um Deutschland geschlossen und ein Zweifrontenkrieg drohte. Das Kaiserreich war „eingekreist“. Bethmann Hollweg versuchte dezent den außenpolitischen Scherbenhaufen, den ihm von Bülow hinterlassen hatte, aufzuräumen.
Gerade als Gespräche mit England bezüglich des Flottenbauprogramms begannen, wurde die Klimaverbesserung durch die zweite Marokkokrise getrübt. Frankreich besetzte im Mai 1911 Fez, die Hauptstadt Marokkos, was ein klarer Bruch der Konferenz von Algeciras war. Alfred von Kiderlen-Wächter, seit Juni 1910 Staatssekretär des Äußeren wollte dies nutzen, um die Marokko-Frage neu aufzuwerfen und die Strapazierfähigkeit der Entente cordiale (Frankreich & England) zu testen. Am 1. Juli 1911 ankerte das deutsche Kanonenboot Panther vor Agadir. Der „Panthersprung“ erregte großes Aufsehen – Begeisterung in Deutschland und Ablehnung im Ausland, wo man der deutschen Drohgebärden langsam überdrüssig wurde. Es war eine Neuauflage der Marokkokrise von 1905/06. Mit einer Diplomatie des kalkulierten Risikos sollte das Bündnissystem, das Deutschland umschloss, Risse bekommen. Die Rechnung ging nicht auf. Der englische Schatzkanzler David Lloyd George unterstrich in seiner Rede vom 21. Juli 1911, dass in der Marokkofrage auch lebenswichtige Interessen Englands berührt würden und es notfalls bereit wäre, für diese Interessen zu kämpfen.
Marokko wurde französisches Protektorat und das Kaiserreich erhielt als Kompensation einen kleinen Landstreifen in Westafrika. Das Resultat war erneut ein Fiasko für die deutsche Außenpolitik. England und Frankreich begannen noch während der Krise – für den Fall eines Krieges – an einem gemeinsamen Operationsplan zu arbeiten.
Je stärker die Außenpolitik scheiterte, desto drastischer trat das Militär auf. Im August 1911 warnte der Generalstabschef Helmuth von Moltke:
Wenn wir aus dieser Affäre wieder mit eingezogenem Schwanz herausschleichen, wenn wir uns nicht zu einer energischen Forderung aufraffen können, die wir bereit sind, mit dem Schwert zu erzwingen, dann verzweifle ich an der Zukunft des Deutschen Reiches.
Helmuth von Moltke (der Jüngere), August 1911
Die außenpolitischen Fronten waren verhärtet und in gewisser Weise markierte die 2. Marokkokrise von 1911 einen Einschnitt in der Geschichte des Kaiserreichs. Die Vorstellung, daß der große Krieg über kurz oder lang doch kommen könne, sogar kommen müsse, weil sich nur durch ihn die äußeren und inneren Probleme lösen ließen, setzte sich immer stärker im öffentlichen Bewusstsein durch. (Zitat von Volker Ullrich, Die Nervöse Großmacht).
1912 – Dominosteine
Um von innenpolitischen Problemen abzulenken, wurde auch in Italien die Idee kolonialer Expansion propagiert. Ermuntert von den Briten und Russland, erklärte Italien im September 1911 dem Osmanischen Reich den Krieg – mit dem Ziel, Libyen als Kolonie zu erobern. Den Tripoliskrieg und die damit verbundene Schwäche des Osmanischen Reiches, nutzen die Balkanstaaten Serbien, Bulgarien und Griechenland im Balkankrieg aus, um sich die osmanische Gebiete Europas untereinander aufzuteilen. Das Osmanische Reich verlor trotz zähem Widerstand an allen Fronten. Die Geländegewinne der Gegner waren immens, allein Serbien konnte sein Territorium nahezu verdoppeln. Obwohl damit der serbische Zugang zur Adria – und somit zu wichtigen Handelshäfen – zum Greifen nahe war, wurde dies durch Österreich-Ungarn verhindert, indem der Staat Albanien geschaffen wurde. Russland, als serbische Schutzmacht und Österreich-Ungarn stießen bei der Adria-Frage erneut aneinander.
Das Dilemma des Kaiserreiches war, entweder Österreich-Ungarn militärische Rückendeckung auf dem Balkan zu geben und einen Krieg mit Serbien und somit auch Russland zu riskieren, oder falls man der KuK Monarchie diese Unterstützung versagte, den letzten Bündnispartner zu verlieren. Wilhelm II. hatte bezüglich des Balkans eigentlich die Devise einer „Nicht-Intervention um jeden Preis“ ausgegeben. Er wurde jedoch von seinem Reichskanzler überzeugt, diese Haltung aufzugeben. Schon am 22. November sagte der Kaiser dem österreichischen Generalstabschef, dass Österreich-Ungarn „auf Deutschlands Unterstützung unter allen Verhältnissen voll zählen“ könne. Bethmann Hollweg konkretisierte dies am 2. Dezember 1912 im Reichstag:
Deutschland seine Bündnispflichten erfüllen würde, falls die Österreicher bei der Geltendmachung ihrer Interessen wider alles Erwarten von dritter Seite angegriffen und damit in ihrer Existenz bedroht werden sollten.
Reichskanzler Bethmann Hollweg am 2. Dezember 1912, Berlin
Die Antwort aus London kam postwendend am nächsten Tag:
Dass England bei einem europäischen Konflikt schon im Interesse der Wahrung des Gleichgewichts nicht den „stillen Zuschauer“ spielen könne und „unter keinen Umständen eine Niederwerfung der Franzosen“ hinzunehmen bereit sei.
Britischer Kriegsminister Haldane am 03. Dezember 1912, London
Als Wilhelm II. von Haldanes Rede bzw. Warnung hörte, war er ziemlich aufgebracht und bestellte für den 8. Dezember 1912 seine militärischen Berater zu einer Unterredung ein – ohne seinen Reichskanzler darüber zu informieren. In diesem später als Kriegsrat genannten Treffen wurde eine weitere militärische Aufrüstung beschlossen – insbesondere der Ausbau der U-Boot Flotte, die sich gegen England richten sollte.
Die Härte der Botschaft aus London stand auch im Zeichen der im Frühjahr 1912 gescheiterten Gespräche zur gegenseitigen Rüstungskontrolle. In der sogenannten Haldane Mission wollte Reichskanzler Bethmann Hollweg den Engländern bei der Flottenaufrüstung entgegenkommen, aber Marinesekretär von Tirpitz – eigentlich dem Reichskanzler unterstellt – wendete sich direkt an den Kaiser. Dieser war bei dem Gedanken einer Rüstungskontrolle nahezu beleidigt und entschied gegen den Reichskanzler. Bethmann Hollweg war matt gesetzt und Beziehungen zwischen London und Berlin kühlten weiter ab.
Da eine Kriegsteilnahme Englands an der Seite Frankreichs und Russland nun sehr wahrscheinlich war, sollte insbesondere der Bau von U-Booten forciert werden. Während Generalstabschef von Moltke den Krieg für unvermeidbar hielt und diesen „je eher desto besser“ wünschte, sprach sich Tirpitz für eine Wartezeit von ca. 1,5 Jahren aus, damit die Flotte entsprechend ausgebaut werden könnte. Das Entscheidende an dieser Kriegsrat-Konferenz war jedoch, dass die Militärs den Krieg mittlerweile für unvermeidbar hielten. Da sich das Kräfteverhältnis vermeintlich zunehmend zu Ungunsten des Kaiserreichs entwickelte, wollten sie diesen Krieg lieber heute als morgen. In der kommenden Juli-Krise von 1914 sollte sich diese „Unvermeidbarkeit“ und „Je eher desto besser“ Zeitgeist als Brandbeschleuniger erweisen.
Grund für diese Eile war das schnelle Wachstum der russischen Industrie und der Ausbau der Eisenbahnlinien – überwiegend finanziert mit französischen Krediten – die in Zukunft eine schnelle Mobilisierung der russischen Armeen erlauben würden. Bethmann Hollweg selbst war im Juli 1912 zu einer Russlandreise aufgebrochen und war beunruhigt über „die aufstrebende, künftig übermächtige russische Industriemacht“ mit ihrem „Reichtum an Bodenschätzen und derber physischer Menschenkraft„.
Die Aussichten in die Zukunft bedrückten ihn schwer. In 2–3 Jahren würde Russland seine Rüstungen beendet haben. Die militärische Übermacht unserer Feinde wäre dann zu groß.
Generalstabschef von Moltke (der Jüngere) im Mai 1914
Zwischenfazit bis 1914
- In den Krisen auf dem Balkan (Bosnien & Albanien) und in Marokko verspielte das Deutsche Reich seinen letzten diplomatischen Kredit.
- Die Invasion Italiens in Libyen brachte einen Stein ins Rollen. Die durch die Schwäche des Osmanischen Reiches ausgelösten Balkankriege wurde die Region Südosteuropa völlig destabilisiert.
- Der massive Ausbau der Industrie und der Eisenbahn in Russlands machte das deutsche Militär nervös. Eine „Je eher desto besser“ Mentalität verfestigte sich mit der Überzeugung der unvermeidliche Krieg müsse möglichst bald geführt werden – solange das Deutsche Reich noch militärisch überlegen sei.
Zeitgeist in der Literatur
In der Vorkriegs-Literatur gab es zwei bezeichnete Titel, die von den Eliten der Hauptstädte gelesen und diskutiert wurden. „Die große Illusion“ vom britischen Publizisten Norman Angell erschien 1910 und handelte von der Unmöglichkeit eines Kriegs. Ein solcher Krieg würde nur Verlieren kennen, da die Volkswirtschaften mittlerweile zu sehr miteinander verflochten waren. Es war also ein nahezu prophetisches Buch. 1912 veröffentlichte der preußische General von Bernhardi sein Buch „Deutschland und der nächste Krieg„, in dem die Notwendigkeit eines Krieges aus ökonomischen und sozialdarwinistischen Argumente dargelegt wurde. Es war quasi das Gegenmodell zu der pazifistischen „Die große Illusion„. Nach dem Kriegsausbruch diente das Buch Friedrichs von Bernhardi als Beleg für die Kriegsabsichten des Kaiserreiches. Inwieweit es jedoch mit lediglich 7.000 verkauften Exemplaren die breite deutsche Meinung oder den Zeitgeist von 1912 widerspiegelte, bleibt offen.
1914 – Sarajevo und die Julikrise
Über die tödlichen Schüssen auf den österreichischen Thronfolger in Sarajevo wurde Wilhelm II. am 30. Juni durch ein Telegramm des deutschen Botschafters in Wien, Heinrich von Tschirschky, informiert. Dieser berichtete ihm, er nutze jede Gelegenheit, „um ruhig, aber sehr nachdrücklich und ernst vor übereilten Schritten (Österreichs gegen Serbien) zu warnen„. Der Kaiser quittierte dies mit einer Randbemerkung: „Tschirschky soll den Unsinn gefälligst lassen! Mit den Serben muss aufgeräumt werden, und zwar bald.“ Für den Kaiser war der Zeitpunkt gekommen, den Krieg zu beginnen, der lieber „Jetzt oder nie!“ entschieden werden sollte.
Auch der österreichische Generalstabschef Franz Conrad von Hötzendorf sah in dem Attentat von Sarajevo die Gelegenheit, endlich mit den verhassten Serbien abzurechnen. Er hatte schon vor dem Anschlag wiederholt einen Krieg gegen Serbien gefordert, um diesen lästigen Nachbarn in seine Schranken zu weisen. Dabei überschätzte er die militärische Schlagkraft Österreichs maßlos und unterschätze Serbien, das dank zweier siegreicher Balkankriege und französischer Kredite gut gerüstet war.
Am 4. Juli wurde Graf Alexander Hoyos aus dem österreichischen Außenministerium nach Berlin geschickt, um die Haltung der deutschen Regierung zu erfragen. Wilhelm II. und Reichskanzler Bethmann Hollweg sicherten Österreich-Ungarn nicht nur die volle Unterstützung Deutschlands zu, sie drängten sogar auf rasches und energisches Handeln. Er würde es bedauern, äußerte Wilhelm II. am 5. Juli dem österreichischen Botschafter Szögyeni gegenüber, „wenn wir den jetzigen für uns so günstigen Moment ungenutzt ließen„. Am nächsten Tag ergänzte der Reichskanzler Bethmann Hollweg, daß er „ebenso wie sein kaiserlicher Herr ein sofortiges Einschreiten unsererseits gegen Serbien als radikalste und beste Lösung unserer Schwierigkeiten am Balkan“ ansehe. Danach verabschiedet sich Wilhelm II. in den Segelurlaub und in Berlin kehrt erstmal Ruhe ein.
Diese Aussagen gingen als „Blankoscheck“ Deutschlands gegenüber Österreich-Ungarn in die Geschichte ein. Egal was Österreich-Ungarn gegenüber Serbien anstellen würde, Deutschland musste nun mitziehen.
Über den Grund für diesen Blankoscheck wurde viel spekuliert: Es wäre entweder der Startschuss des von langer Hand geplanten Griffs der Deutschen nach der Weltmacht gewesen (Fischer-Kontroverse) oder aber ein unbedachtes Hineinstolpern in den globalen Konflikt (Schlafwandler, Christopher Clark). Ein dritter Grund (vertreten durch die Historiker: Egmont Zechlin, Karl Dietrich Erdmann, Andreas Hillgruber und Klaus Hildebrand) beleuchtet die Entscheidungen im Juli 1914 aus dem Blickwinkel außenpolitischer Überlegungen. Das Kaiserreich hatte sich zwischen 1890 (Keine Verlängerung des Rückversicherungsvertrags mit Russland) und 1904 (Entent cordial zwischen Frankreich und England) selbst ins außenpolitische Abseits gestellt. Frankreich hatte diese Zeit genutzt, um die ehemalige Bündnispolitik Bismarck umzukehren. Nun war das Deutsche Reich isoliert. Daher versuchte das Kaiserreich, mit einer diplomatischen Offensive den Ring zu sprengen, in dem sie die Triple Entente vor eine Belastungsprobe stellte. Hierbei wurde evtl. ein globaler Krieg in Kauf genommen, aber die Hoffnung war, den serbischen Konflikt regional zu lösen und einen diplomatischen Erfolg zu erzielen. Es war die gleiche Mechanik eines „kalkulierten Risikos“ wie bei den beiden Marokko Krisen. Und auch schon damals hatte sie nicht funktioniert.
Folgendes Zitat in Bezug auf das Verhalten des Deutschen Kaiserreiches in der Juli-Krise bringt es auf den Punkt:
Eliten, die sich derart mit dem Rücken zur Wand verteidigen, ist in erhöhtem Maße die Einstellung eigen, hohe Risiken einzugehen, um ihre Spitzenposition in der sozialpolitischen Hierarchie zu behaupten.
Wolfgang J. Mommsen & Hans-Ulrich Wehler
Laut Volker Ulrich, dem Autor von „Eine nervöse Großmacht 1871 – 1918“ lag dem deutschen Verhalten in der Juli-Krise keine imperiale Strategie zugrunde, wie später gern behauptet, sondern: „…ein merkwürdiges Gemisch aus übertriebenen Befürchtungen, irrationalen Erwartungen und dilettantischen Fehlrechnungen.“
Der morsche Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn würde früher oder später kollabieren, wenn es nicht – mit Deutschlands Hilfe – einen deutlichen Prestigeerfolg gegen Serbien erzielt. Zugleich könnte in dieser Krise geprüft werden, wie kriegsbereit Russland wirklich war. Insofern es bereit war, für Serbien und die panslawistische Idee in den Krieg gegen ein verbündetes Deutschland & Österreich-Ungarn zu ziehen, dann lieber jetzt als morgen. Man erwartete, dass Russland seine Aufrüstung 1916/17 abgeschlossen haben würde und bis dahin konnte die KuK Monarchie von inneren Autonomiebewegungen seiner slawischen Völker weiter aufgeweicht werden. Wie von Moltke immer wieder erwähnt, wären zu einem späteren Zeitpunkt die Chancen ungleich schlechter, den (seiner Meinung nach) „unausweichlichen“ Krieg zu gewinnen.
Des weitern gab es die Möglichkeit, dass Russland, dessen Zar ebenfalls auf einem recht wackeligen Thron saß, vor dem Konflikt zurückschreckt und somit die Entente Tripel destabilisiert. Diese Überlegung faßte Riezler – deutscher Diplomat und enger Vertrauter des Reichskanzlers Bethmann Hollweg – in einem Satz zusammen:
“Kommt der Krieg nicht, will der Zar nicht oder rät das bestürzte Frankreich zum Frieden, so haben wir doch noch Aussicht, die Entente über diese Aktion auseinander zu manövrieren.”
Riezler, 8. Juli 1914
Unter diesen Prämissen ist das Vorgehen inkl. Blankoscheck bedingt nachvollziehbar.
Dieses Kalkül wäre evtl. aufgegangen, wenn Österreich-Ungarn schnell gehandelt hätte und im Affekt eine militärische Strafaktion gegen Serbien vollzogen hätte. Die Entente Tripel wäre vor vollendete Tatsachen gestellt worden. „Ein schnelles fait accompli, und dann freundlich gegen die Entente, dann kann der Choc ausgehalten werden.“ wie Riezler in seinem Tagebuch vermerkte. Eine solche (Re)aktion Österreich-Ungarns hätte von den anderen Großmächte toleriert werden können. Schnelles Handeln war also entscheidend, um die Krise regional militärisch und global diplomatisch zu lösen.
Doch in Wien ließ man wertvolle Zeit verstreichen. Es dauerte ganze zwei Wochen bis am 19. Juli endlich der Text des Ultimatums an Belgrad überreicht wurde – wohlgemerkt ohne ihn vorher mit Berlin abzustimmen. Durch diese Verzögerung entfiel das für das deutsche Krisenkalkül zentrale Überraschungsmoment. Die war die erste große Fehleinschätzung der deutschen Außenpolitik in der Julikrise. Der zweite Fehler war, dass niemand bedacht hatte, was zu tun ist, wenn Serbien die Bedingungen des Ultimatums annimmt. Die Antwortnote Belgrads war ein Meisterstück der Diplomatie, da sie auf alle Punkte einging und lediglich die Ermittlung Österreichischer Polizeibeamter auf serbischen Boden einem internationalen Gericht/Komitee unterstellen wollte. Damit entfiel die Legitimation für ein militärisches Vorgehen gegen Serbien. Der Spieß wurde von den Serben umgedreht und wenn nun Österreich-Ungarn trotzdem angreifen sollte, dann waren sie der Aggressor, denn Serbien ging auf (fast) alle Forderungen ein, um den Konflikt abzuwenden.
Das Deutsche Reich ging davon aus, dass Österreich-Ungarn das Recht auf seine Seite hatte und wollte sich diese Gelegenheit für einen diplomatischen Sieg nicht nehmen lassen. Deshalb wurden englische Vermittlungsangebote während der Juli-Krise abgelehnt oder hingehalten. Dies sorgte in London für Irritation und ließ den englischen Unterstaatssekretär Nicolson sagen:
“Wir sind Zeugen eines höchst zynischen und verwegenen Vorgehens, und Deutschland sollte um seines eigenen Ansehens willen durch Taten beweisen, daß es nicht gewillt ist, sich daran zu beteiligen.”
Foreign Office London, Unterstaatssekretär Nicolson am 27. Juli 1914
Dass trotz überwiegender Annahme der Forderungen die serbische Antwortnote von Österreich-Ungarn abgelehnt wurde, interpretierten England, Frankreich und Russland als Kriegsbereitschaft Deutschlands und zeigten sich entschlossen, auf diese Provokation entschieden zu antworten.
Das Verhalten der KuK-Monarchie während der Julikrise war dilettantisch und Beleg dafür, dass Österreich-Ungarns Zeit als Großmacht vorbei war.
“In Wien, so drückte es einmal ein deutscher Diplomat aus, „beginnt der Mensch mit dem Grafen“. Denn häufig waren hier statt selbständigem Urteilsvermögen und Weltläufigkeit nur ein bornierter Korpsgeist und aristokratische Weltfremdheit anzutreffen, wie sich an der Ablehnung der serbischen Antwortnote zeigte.”
Zitat von Volker Ullrich, Eine nervöse Großmacht 1871 – 1918
Christopher Clark verwendete in seinem Buch „Die Schlafwandler“ die passende Metapher, dass Österreich-Ungarn „in den Krieg trippelte, wie ein Igel über die Autobahn“.
Wilhelm II. selbst hat Anfangs auf einen schnellen Schlag gegen Serbien gedrängt. Nach seinem Segelurlaub, als sich abzuzeichnen begann, dass aus dem regionalen Konflikt ein Weltkrieg entbrennen könnte, begann er zu zaudern. Das Heft des Handelns lag jedoch mittlerweile bei Österreich-Ungern. Und Wien trat in der Gewissheit, Deutschland hinter sich zu wissen, mit geschwellter Brust auf.
Bethmann-Hollweg war für seinen Verstand und seine verantwortungsvolle Persönlichkeit bekannt. Dennoch spielte er in der Juli Krise eine tragische Rolle. Da seine Frau Anfang Mai verstorben war, sah er sehr pessimistisch auf die Ereignisse und zog daraus drastische Schlüsse. Statt jedoch in der Juli-Krise alles auf eine Karte zu setzen, hätte Abwarten die Position des Deutschen Reiches verbessert, wie der Autor Holger Afflerbach in seinem Buch „Auf Messers Schneide“ schreibt:
Und doch hatte Deutschland, wie zumindest der Industrielle Hugo Stinnes und später auch Ferdinand Foch meinten, infolge seiner industriellen Dynamik und seines großen Bevölkerungszuwachses durch Abwarten mehr zu gewinnen als die eher stagnierenden Gesellschaften Frankreichs und Großbritanniens.
Auf Messers Schneide: Wie das Deutsche Reich den Ersten Weltkrieg verlor. Holger Afflerbach, 2018
Als Bethmann-Hollweg und dem Kaiser Ende Juli 1914 deutlich wurde, welche Lawine sie mit dem Blankoscheck ausgelöst hatten, war es zu spät, um die Wogen wieder zu glätten. Am 4. August 1914 war die Politik des kalkulierten Risikos gescheitert. England stellte ein Ultimatum und Italien verweigerte die Bündnishilfe mit Verwies auf die Defensivklausel des Dreibundes. Bethmann-Hollweg bot dem Kaiser seinen Rücktritt als Reichskanzler an, den dieser mit dem folgenden Satz abgelehnt haben soll: „Sie haben mir die Geschichte eingebrockt, nun müssen Sie sie auch ausfressen.“ Der preußische Kriegsminister Erich von Falkenhayn notierte am 28. Juli 1914:
[Der Kaiser] hält wirre Reden, aus denen nur klar hervorgeht, daß er den Krieg jetzt nicht mehr will und entschlossen ist, um diesen Preis selbst Österreich sitzen zu lassen. Ich mache ihn darauf aufmerksam, daß er die Angelegenheit nicht mehr in der Hand hat.
Erich von Falkenhayn, 28. Juli 1914
Plötzlich sehnte sich Wilhelm II. nach Frieden, wenn auch primär seiner Bequemlichkeit und sprunghaften Persönlichkeit wegen. Holger Afflerbach beschreibt in seinem Buch “Auf Messers Schneide” den Kaiser wie folgt:
Das Hauptproblem des Kaisers war seine Inkonsistenz, seine Oberflächlichkeit und seine stark ausgeprägte Neigung, schwierigen Entscheidungssituationen auszuweichen.
Die Lokomotive der Mobilisierung hatte bereits Fahrt aufgenommen und war nicht mehr zu stoppen. Obwohl Bethmann Hollweg vor dem Reichstag von einem aufgezwungenen Verteidigungskrieg sprach, waren es deutschen Armeen, die offensiv ins neutrale Belgien und Luxemburg einmarschieren.
Kettenreaktion
Die Chronologie des Kriegsbeginns:
- 29. Juli 1914 Österreich-Ungarn eröffnet die Feindseligkeiten gegenüber Serbien, indem es Belgrad beschießt.
- Daraufhin erfolgt die russische Teilmobilmachung.
- Der englische Außenminister lässt ausrichten, dass England in dem kommenden Konflikt nicht neutral bleiben könne.
- Nun versucht Deutschland mäßigend auf Österreich-Ungarn einzuwirken – jedoch ohne Erfolg bzw. viel zu spät.
- Am 31. Juli um 16h russische Generalmobilmachung. Ultimatum des Kaiserreichs an Russland, die Mobilmachung zurückzunehmen.
- Nach Ablauf des Ultimatums am 1. August deutsche allgemeine Mobilmachung und wenig später die Kriegserklärung an Russland.
- Anfrage des Deutschen Reiches an Frankreich, ob es sich in dem bevorstehenden Konflikt neutral verhalten wird. Frankreich antwortet vage, ohne die Neutralität zu garantieren, woraufhin am 3. August Deutschland Frankreich den Krieg erklärt.
- Am 2. August Ultimatum an Belgien, einen Durchmarsch Deutscher Truppen zu erlauben. Nach Ablehnung erfolgt am 4. August der Einmarsch ins neutrale Belgien.
- Ultimatum Englands an Deutschland, die belgische Neutralität zu wahren. Nach Ablauf des Ultimatums Kriegserklärung an Deutschland.
In dem Buch „Falkenhayn: Politisches Denken und Handeln im Kaiserreich“ von Holger Afflerbach wird das Denken innerhalb der deutschen Führung in der Juli-Krise von 1914 treffend beschrieben:
Für Moltke – wie für Bethmann Hollweg – war ein dem Zeitgeist entsprechendes Pflichtgefühl gegenüber der scheinbaren Notwendigkeit der Existenzsicherung (des Deutschen Reiches) ausschlaggebend. […] Moltke hatte durch seine ständigen Warnungen vor dem für 1916 erwartenden Angriff und der dann drückend überlegenen Entente entscheidend dazu beigetragen, bei Bethmann die Bereitschaft zu höchstem Risiko zu steigern.
Das preußische Militär – der Staat im Staat
Beim Tode Friedrichs II. soll der französische Staatsmann Graf Mirabeau gesagt haben: “Andere Staaten besitzen eine Armee; Preußen ist eine Armee, die einen Staat besitzt.“ Seit dem Dreißigjährigen Krieg 1618 bis 1648 legten die preußischen Herrscher Wert auf ein starkes Militär, um nicht erneut zum Spielball anderer Nationen und Interessen zu werden. Für den Erhalt des großen stehenden Heeres wurden in dem kleinen Land hohe Steuern erhoben. Wegen dieser Steuerlast und der Zwangsrekrutierung war das Militär in der Bevölkerung Preußens anfangs nichts sonderlich beliebt.
Die liberale Märzrevolution von 1848/49 wurde von preußischen Streitkräften zusammengeschossen, was ihre Beliebtheit nicht weiter steigerte. Dennoch wurden die Militärs im Kaiserreiches wie Stars gefeiert. Wie es zu diesem Sinneswandel kam, beschreibt Prof. Sönke Neitzel sehr treffen:
Doch die große Zäsur in der modernen deutschen Militärgeschichte stellten zweifellos die Siege in den Einigungskriegen von 1864, 1866 und 1870/71 dar. Sie waren nicht nur eine wichtige Voraussetzung für die Gründung des ersten deutschen Nationalstaats, sondern sie veränderten auch das Verhältnis der Deutschen zu ihrem Militär grundlegend. Die bürgerlich-liberale Kritik an den Streitkräften wich einer schier grenzenlosen Bewunderung. Die Siege gegen Österreich und Frankreich manifestierten zudem einen German Way of War: Schnelle, blitzartige und risikoreiche Angriffsoperationen waren seit 1866 das Merkmal preußisch-deutscher Kriegführung.
Sönke Neitzel. Deutsche Krieger. 2020
Kommunikation ist wichtig. Insbesondere in der Politik. Das Militär saß jedoch auf einem hohen Ross im Deutschen Reich. Vielleicht deshalb sah es sich nicht genötigt, die Regierung und insbesondere den Reichskanzler über militärische Pläne – wie den Schlieffenplan – aufzuklären. Der Reichskanzler wollte laut Sebastian Haffner drei Ziele erreichen. Wenn ein Krieg schon unausweichlich sei, dann:
- Müsste Österreich-Ungarn mitmachen
- Die Sozialdemokraten müssten mitmachen
- England müsste neutral bleiben
Die Schüsse in Sarajevo gaben hierfür die optimale Gelegenheit. Es wäre ein Österreichischer Krieg, in dem das Deutsche Reich als Verbündeter einspringt, wenn Russland der KuK Monarchie den Krieg erklärt. Einem Bündnisfall würden die Sozialdemokraten zustimmen. Da es sich um einen osteuropäischen Krieg handeln würde, sähe England keinen Anlass direkt einzugreifen. Selbst wenn Frankreich Russland zur Hilfe kommt, könne das Deutsche Reich sich im Westen defensiv verhalten und somit England außen vor lassen.
Das deutsche Militär machten jedoch einen Strich durch diese Rechnung, da der einzig verfügbare Aufmarschplan einen Blitzsieg über Frankreich vorsah. Und dieser war nur möglich, indem man die französischen Festungen umging – und zwar über Belgien, dessen Neutralität von England garantiert wurde. Im Deutschen Reich herrschte ein Ressort-Denken, weshalb außerhalb der eingeweihten Militärs niemand den Schlieffenplan kannte – nicht einmal der Kriegsminister. Ebensowenig war das Heer mit den Plänen der Marine vertraut und andersherum. Die einzige Person, die alle Plänen kannte, war der Kaiser.
Kriege können gewonnen oder verloren werden, bevor der erste Schuss fällt. Das Deutsche Reich hatte sich mit seiner Weltpolitik und Fokussierung auf den Schlieffenplan in eine sehr ungünstige Ausgangsstellung für einen Krieg manövriert. Einerseits wurde die Mobilisierung von der deutschen Militärführung unter Berücksichtigung von Eisenbahnlinien und Brückenkapazitäten bis ins kleinste Detail geplant. Andererseits wurde der Gefahr eines englischen Kriegseintritts zum Schutz Belgiens kaum Beachtung geschenkt. Der Bruch der belgischen Neutralität wurde im Generalstab mit den militärischen Chancen verrechnet und ohne große Diskussion akzeptiert.
Arthur von Gwinner, Bankier, fasste im August 1914 die Juli-Krise wie folgt zusammen: „Sie haben ein gefährliches Spiel in der Wilhelmstraße gespielt, wollten mit Rußland ebenso verfahren wie in der bosnischen Krise und haben sich geirrt.“ In der Bosnischen Krise 1908 war Russland letztendlich unter der Kriegsgefahr eingeknickt. Aber damals war Russland nach der katastrophale Niederlage gegen Japan militärisch noch nicht wieder hergestellt. Das sah 1914 anders aus und nun herrschte Krieg, der zuerst in den Hauptstädten Europas frenetisch begrüßt wurde:
Wie hätte der Künstler, der Soldat im Künstler nicht Gott loben sollen für den Zusammenbruch einer Friedenswelt, die er so satt, so überaus satt hatte! Krieg! Es war die Reinigung, Befreiung, was wir empfanden, und eine ungeheure Hoffnung.
Thomas Mann, August 1914
Die anfängliche Kriegsbegeisterung schwand jedoch schnell, als Soldaten zu Hunderttausenden im Maschinengewehrfeuer fielen oder von Artilleriegranaten zerfetzt wurden, ohne den Feind überhaupt zu Gesicht zu bekommen. Der vermeintliche heroische Krieg hatte sich in ein industrielles Gemetzel verwandelt.
Exkurs: Der moderne Krieg
Um das kalkulierbare Risiko, mit dem das Kaiserreich in der Juli-Krise jonglierte, im Kontext der damalige Erfahrungswelt zu bewerten, sollte man sich die Länge und Verluste der Einigungskriege ansehen:
- Deutsch-Dänischer Krieg / 272 Tage / ca. 7.800 Tote
- Preußisch-Österreichischer Krieg / 70 Tage / ca. 90.000 Tote
- Deutsch-Französischer Krieg / 295 Tage / ca. 184.000 Tote
Diese Kriege wurden als Feldzüge geplant und mit ein/zwei Schlachten entschieden. Dementsprechend sah der Schlieffenplan vor, Frankreich in nur wenigen Wochen zu besiegen und dann den Krieg im Osten zu entscheiden. Kaum jemand konnte vorhersehen, was für ein langwieriger und verlustreicher Krieg bevorstand. Bis dahin wurden lediglich begrenzte Kabinettskriege ausgefochten. Ein totalitärer Krieg unter Einsatz sämtlicher Ressourcen einer Nation war unbekannt.
Von Moltke der Ältere warnte jedoch in seiner Rede vom 14. Mai 1890: „Die Zeit Kabinettskriege liegt hinter uns — wir haben jetzt nur noch den Volkskrieg.“ Ein Krieg würde nicht mehr in wenigen Feldzügen entschieden, sondern könne sich zu einem langjährigen Krieg hinziehen, bis eine Partei völlig ermattet ist. Er sollte Recht behalten.
Meine Herren, es kann ein siebenjähriger, es kann ein dreißigjähriger Krieg werden – und wehe dem, der zuerst die Lunte in das Pulverfaß schleudert!
Helmuth von Moltke, 14. Mai 1890
Des weiteren veränderten die erste Maschinengewehre ab 1885 sowie eine moderne Artillerie das Gesicht des Krieges. Jeglicher „Vorwärts-Epos“ starb im industriellen Gemetzel. Sämtliche Offensiven in 1914 scheiterten. Ob Frankreich in Lothringen, Russland in Ostpreußen, Österreich in Serbien sowie das Deutsche Reich in Belgien. Beim Stand der damaligen Kriegstechnik war die Verteidigung dem Angriff überlegen. Dies gab dem 1. Weltkrieg den bedrückenden Charakter eines Erschöpfungskriegs.
Lediglich die englische Nation stellte sich auf einen langen Krieg ein. Seit 1906 wurden Pläne für eine Deutsche Seeblockade ausgearbeitet. So sollte das Kaiserreich, das abhängig von Rohstoffimporten war, ermattet werden. Darüber hinaus würde man nachhaltig die in den letzten Jahren stark gewachsene Deutsche Wirtschaft lähmen – und somit selbst wieder an die Spitze der Exportnationen aufsteigen.
Kriegsspiel
Als Österreich-Ungarn Serbien den Krieg erklärte, obwohl Belgrad die meisten Bedingungen des Ultimatums angenommen hatte, zischte die Lunte am Balkan-Pulverfass auf. Bis dahin war es ein regional begrenzter Konflikt. Als Russland jedoch mobil machte, um panslawistisch seine serbischen Brüdern zu unterstützen, wurde die Lunte schlagartig ein gutes Stück kürzer. Als daraufhin – nach Verweigerung der Rücknahme der Mobilmachung – das Deutsche Reich dem Russischen Reich den Krieg erklärte, explodierte das Pulverfass.
Eine Mobilisierung muss man sich als einen Mechanismus vorstellen. Kommt dieser einmal in Gang, ist er – wie eine Fahrt aufnehmende Lokomotive – schwer zu stoppen. Wenn nun die Gegenseite mobilisiert, gewinnt sie einen wertvollen – wenn nicht sogar kriegsentscheidenden – Zeitvorteil. Denn die mobilisierten Armeen der Gegenseite könnten ungehindert in das eigene Territorium einmarschieren. Deshalb muss man selbst mobilisieren, und zwar möglichst schnell, um dieser Gefahr entgegentreten zu können. Somit brachte die Mobilisierung Russlands Deutschland unter Zugzwang.
Wenn die Hunde des Krieges von der Leine gelassen werden, kommt eine Dynamik in Gang, die kein Stratege vorhersehen kann. Clausewitz nennt diese Dynamik „Friktionen“ – unvorhersehbare Ereignisse. Sinnvoll auf diese Friktionen zu reagieren, macht einen guten Strategen aus. Der deutsche Generalstab beharrte auf der Ausführung des Schlieffenplans. Obwohl der Krieg im Osten mit Russland ausgebrochen war, sollten die deutschen Armeen im Westen gegen Frankreich aufmarschieren.
Sogar der Kaiser, bisher wahrlich keine große Hilfe in dieser Krise, befiehlt dem Militärchef von Moltke, er solle gefälligst seine Aufmarschpläne ändern, um nicht unnötigerweise Frankreich oder gar England zu provozieren. Das deutsche Militär hat aber im August 1914 nur einen einzigen Aufmarschplan in der Schublade – den Schlieffenplan, der zuerst einen Angriff auf Frankreich vorsieht. Der alternative Ost-Aufmarschplan, ursprünglich von seinem Onkel, Helmuth von Moltke (der Ältere) wurde ab Frühjahr 1913 von seinem Neffen von Moltke (der Jüngere) aus dem Programm genommen. Entweder man marschiert im Westen auf oder gar nicht, da ohne Mobilisierungsplan Chaos herrscht. Der Kaiser gibt nach und von Moltke führt den Schlieffenplan aus.
Russland war mit Frankreich verbündet, welches mit der Entente Continental ein Bündnis mit England hatte. Dies war kein Geheimnis, weshalb sich das Deutsche Reich der Neutralität Frankreichs in seinem Konflikt mit Russland versichern wollte. Jedoch war die Art und Weise der Anfrage sehr brüsk. Das Deutsche Kaiserreich stellte ein Ultimatum an Frankreich, das innerhalb von 18 Stunden zu beantworten sei. Bei Wahrung der Neutralität sollten als Garantie die beiden Festungen Verdun und Toul von deutschen Truppen besetzt werden, solange der Konflikt mit Russland anhielt. Die Antwort der Franzosen war diplomatisch: „Man werde in den Interessen der Nation handeln“, woraufhin das Deutsche Reich Frankreich den Krieg erklärte.
Als von Moltkes „Das geht nicht“ nach dem Krieg publik wurde, war der damalige Chef der Eisenbahn, General von Staab, so empört, dass er ein Buch verfasste, um das Gegenteil zu beweisen. Ausführlich schilderte er mit Diagrammen und Karten, dass bei entsprechender Benachrichtigung am 1. August bis zum 15. August vier der sieben Armeen in den Osten und drei zur Verteidigung nach Westen gebracht hätten werden können. (Vgl. Barbara Tuchman, S. 89). Somit war es primär von Moltkes Weigerung, die den Aufmarsch im Osten in letzter Minute doch noch verhinderte. Ob es nun daran lag, dass er unbedingt den Schlieffenplan umsetzen wollte, an dem so viele lange Jahre gearbeitet wurde oder ob es an einem schwachen Nervenkostüm lag, das der melancholisch veranlagte von Moltke besaß, bleibt offen. Der Schlieffenplan war das Mantra des Deutschen Heeres. Ein weiserer Kaiser als militärischer Oberbefehlshaber hätte eine solche Obsession nicht zugelassen und auch andere außenpolitische Konstellationen beachtet. Wilhelm II. war so ein Kaiser nicht.
Sebastian Haffner bezeichnet die Konzentration auf nur einen einzigen Aufmarschplan im Westen – unabhängig von der tatsächlichen Krisenlage – als „…die eigentliche Pflichtversäumnis, ja, das Verbrechen des deutschen Generalstabs.“ (Von Bismarck zu Hitler, S.120).
Darüber hinaus verteilt das Deutsche Kaiserreich großzügig Kriegserklärungen, währenddessen Frankreich peinlich darauf bedacht ist, auf keinen Fall als erste Nation eine Schuss abzugeben oder eine Grenze zu überschreiten. Zu diesem Zwecks werden noch Ende Juli die französischen Truppen um 10 Kilometer von der Grenze zurückgezogen. Frankreich wusste, dass es nur auf den Beistand England hoffen konnte, wenn die Aggression eindeutig von Deutschland ausging. Das war noch eine schmerzliche Erfahrung aus dem Deutsch-Französischem Krieg von 1870. Außerdem war Italien als Mitglied des Dreibunds mit Deutschland und Österreich-Ungarn nur bei einem defensiven Krieg zur Bündnistreue verpflichtet – weshalb es nicht nur neutral blieb, sondern auch später auf der Seite der Entente in den Krieg eintreten sollte. Die Unbedachtheit des Kaiserreichs in der Juli-Krise lässt sich nicht nur mit Unreife und Hochmut erklären, sondern auch mit der Dominanz des preußischen Militärs über der Politik.
Selbst Großadmiral von Tirpitz beklagte sich in den Beratungen am 1. und 2. August, wozu die Kriegserklärungen an Russland und Frankreich nötig wären, da sie doch einen „aggressiven Beigeschmack“ hätten. Er wiederholte die Warnung aus London, was die Verletzung der belgischen Neutralität betraf und schlug vor, den Einmarsch nach Belgien aufzuschieben, was Moltke erschrocken als „ausgeschlossen“ zurückwies.
Obwohl aus ausreichend Hinweise auf einen Kriegseintritt Englands gab, werden sie von dem Kaiser und seiner Clique von Beratern schlichtweg ignoriert. Von Moltke hingegen rechnete fest mit einem Kriegseintritt Englands, sobald die belgische Grenze überschritten wäre, wie er 1913 in einem Memorandum festhielt. Niemals würde es England erlauben, dass die belgische Kanalküsten mit ihren Häfen in deutsche Hand fiel. Darüber hinaus gehörte das Verhindern des Entstehens einer kontinentalen Macht zu den Grundpfeilern der britischen Außenpolitik.
Frankreich wäre wahrscheinlich auch ohne deutsche Kriegserklärung in den Krieg eingetreten. Immerhin hat der französischer Ministerpräsident Poincaré auf die Revanche zugearbeitet und es bestand ein Bündnis mit Russland. Aber die französische Republik hätte erstmal dem Deutschen Reich den Krieg erklären müssen, was in einer Republik systembedingt länger dauert, als in einer Monarchie. Frankreich wäre selbst als Aggressor aufgetreten, was den Kriegseintritt Englands unwahrscheinlicher bzw. schwieriger gemacht hätte – auch weil die belgische Neutralität nicht verletzt worden wäre. Dies hätte dem Deutschen Reich Zeit verschafft, in der es seine militärische Dominanz im Osten hätte ausspielen können.
Es kam aber anders und die Deutschen Armeen marschierten in Luxemburg und Belgien ein. Zwar fragen die deutschen Diplomaten noch höflich in Belgien an, ob sie mal kurz durch dürften. Als aber verneint wird, tun sie es trotzdem. Die Belgier wehren sich und der Schlieffenplan verzögert sich. Die Deutschen Militärs sind sauer und lassen ihren Frust an belgischen Zivilisten aus. Das gibt schlechte Presse sowie eine Kriegserklärung aus London, dem Zentrum der damaligen See- und Weltmacht. Jetzt ist nicht nur irgendwo auf dem Balkan ein Pulverfass explodiert, sondern über Europa ging das Licht aus – bis 1945.
Alleinige Schuld des Deutschen Reiches?
Bisher wurde der Anteil des Deutschen Reiches am Ausbruch des 1. Weltkriegs beleuchtet. Aber auch Andere haben ihren Beitrag geleistet:
Die 3. Französische Republik
Frankreich hat insbesondere unter dem Ministerpräsidenten Poincaré (der 1870 als gebürtiger Lothringer im Alter von zehn Jahren vor der preußischen Armee hat fliehen müssen) auf eine Revanche zugearbeitet. Poincaré wusste, dass Frankreich nur gegen das Deutsche Reich bestehen konnte, wenn dieses in einem Zwei-Fronten Krieg kämpft. Auf dem Balkan bot sich sogar eine dritte Front an, die zwischen Deutschlands Verbündeten Österreich-Ungarn und Serbien verlaufen würden. Serbien wurde daher durch französische Kredite subventioniert, ebenso wie Russland, das seit 1894 mit Frankreich verbündet war. Die Kredite an Serbien und Russland strapazierten den französischen Haushalt. Am Vorabend des Krieges hatte sich ein Schuldenberg von 1.3 Milliarden angehäuft. In der französischen Öffentlichkeit spielte Elsass-Lothringen am Vorabend des Krieges keine große Rolle mehr. Die französische Staatsräson wollte jedoch auf ihre Revanche nicht verzichten. Politiker wie Joseph Caillaux, die eine Aussöhnung mit Deutschland suchten, wurden diffamiert. Das Ziel war, Elsass-Lothringen wieder an Frankreich einzugliedern – auch wenn dafür ein Krieg notwendig war. Frankreich konnte jedoch als Demokratie – die auf die Meinung der Öffentlichkeit wert legen muss – nicht den Krieg beginnen. Diese Rolle fällt dem zaristischen Russland zu, das als Monarchie einen Krieg leichter legitimieren kann. Frankreich sicherte hierbei Russland den uneingeschränkten Beistand zu – ähnlich einer Carte Blanche. Entsprechend hat Frankreich die russische Mobilmachung vom 31. Juli 1914 begrüßt. Laut dem französische Schriftsteller Alfred Fabre-Luce glaubte Poincaré an die „unausweichliche Notwendigkeit des Kriegs“ und beschuldigte ihn, an dem Ausbruch des 1. Weltkriegs mitverantwortlich zu sein.
Der Gegensatz des deutschen Imperialismus und des französischen Revanchismus trieb beide Nationen auf einen militärischen Konflikt zu.
Das Zarenreich
Russland verblieb nach der Blamage im Krieg gegen Japan von 1905 nur der Balkan als die Region, in der es expandieren bzw. einen diplomatischen Erfolg erzielen konnte. Und einen Erfolg hatte der Zar zur Stabilisierung seines Regimes bitter nötig. Die Revolution von 1905 hatte gezeigt, auf welchen wackeligen Beinen die Monarchie stand und wie stark die liberalen Kräfte mittlerweile in Russland waren. Somit konnte der Zar die Serben nicht fallen lassen, insofern er weiterhin auf dem Thron bleiben wollte. Im Kontext der expansiven Ambitionen des Zarenreichs, waren die Forderung nach Freiheit der südslawischen Brüder jedoch nur vorgeschoben. Ziel war es, die Kontrolle über den Bosporus und somit den Zugang zum Mittelmeer zu erhalten. Hierbei war eine Destabilisierung des Balkans hilfreich. Eine Zergliederung des Osmanischen Reiches bot Russland den Anreiz, seinen Marsch auf Konstantinopel bzw. Istanbul wieder aufzunehmen. Da jedoch die Türkei vom Deutschen Reich unterstützt wurde, bot die Allianz mit Frankreich die Möglichkeit, die militärische Kraft Deutschlands einzuschränken.
Warum war für Russland der Bosporus wo wichtig? Moskau begriff sich als das „dritte Rom“ und wollte das zweite Rom – Konstantinopel – erobern, um in der Hagia Sophia wieder eine orthodoxe Messe lesen zu lassen. Bis zu seiner Eroberung durch die Osmanen im Jahre 1453 war Konstantinopel als ehemalige Hauptstadt des oströmischen Reiches zugleich der Hauptsitz der orthodoxen Kirche. Neben diesen religiösen Motiven gab es auch weltliche bzw. wirtschaftliche Gründe: Ungefähr die Hälfte der russischen Exporte und nahezu 90% der Getreideexporte wurden über das Schwarze Meer und den Bosporus abgewickelt. Die Meerenge der Dardanellen waren somit für Russland das Nadelöhr zu den Weltmärkten. Als die Türkei im Krieg gegen Italien die Meerenge 1912 schoss, brach die russische Wirtschaft um ein Drittel ein. Die ukrainische Schwerindustrie kam sogar komplett zu erliegen.
Deshalb reagierte Russland besonders delikat, als ein deutscher Offizier Anfang 1914 in Istanbul im Zuge einer Militärmission das Kommando übernahm, um die osmanischen Truppen zu reorganisieren. Es war ein Tiefpunkt der deutsch-russische Beziehungen. Der russische Außenminister Sasonow verwies unmissverständlich darauf, dass Russland seine Interessen massiv verletzt sehe und zu deren Verteidigung notfalls auch zu den Waffen greife werde. Die Deutsche Regierung ruderte zurück, überrascht von der Heftigkeit der russischen Reaktion.
Somit besaßen die Dardanellen für Russland einen ähnlich hohen strategischen Wert, wie der Suezkanal für England. Das Zarenreich würde jedes Bündnis eingehen, das ihm einen Zugang zu dieser Meerenge versprach – so wie es Frankreich tat.
Vor der Reichsgründung war Russland der traditionelle Freund Preußens, weshalb es auch in den Einigungskriegen Preußen den Rücken frei hielt. Dafür hat es auch eine Art Gegenleistung erwartet, die ihm allerdings im Berliner Kongress 1878 von Bismarck verwehrt worden war. Anstatt dem russischen Zaren den Bosporus zuzusprechen, nahm Bismarck gemäß seiner Entspannungsdiplomatie die Rolle des neutralen und ehrlichen Vermittlers ein. Damals wurde die Chance vertan, eine enge und nachhaltige Bindung zu Russland aufzubauen. Man hätte es sich zwar eventuell mit England verscherzt, aber Russland spielte geographisch für das Deutsche Reich eine viel wichtigere Rolle. Bei einem dauerhaften russisch-deutschen Bündnis hätte es zu keiner „Einkreisung“ kommen können.
Am Vorabend des Krieges hatte Russland 4 Milliarden Rubel Auslandsschulden. Die Gläubiger waren zu 94% Frankreich und England. Bei einem Besuch in St. Petersburg im Juli 1914 unterstrich der französischen Präsidenten Poincaré eine „feierliche Bestätigung der Verpflichtungen, die aus dem Bündnis für beide Länder hervorgingen.“
Russlands Mobilmachung am 30.07.14 um 16h war ein gravierender Schritt zum Weltkrieg, da es die erste Mobilmachung der Krise war. Bis dahin handelte es sich um einen lokalen Konflikt zwischen Serbien und Österreich-Ungarn. Russland mobilisierte 20 Stunden vor der Mobilmachung in Österreich sowie 48 Stunden vor der Mobilmachung in Deutschland.
Die Kaiser und König Monarchie (KuK)
Österreich-Ungarn war in Zeiten der Nationalstaaten als feudaler Vielvölkerstaat ein Anachronismus. Nach der Niederlage von 1866 gegen Preußen war Kaiser Franz gezwungen, seinen slawischen Untertanen Zugeständnisse zu machen. Im Österreichisch-Ungarischen Ausgleich von 1867 wurde aus den zentral regierten Kaisertum Österreich die dezentrale Doppelmonarchie Österreich-Ungarn. Die beiden Hälften des Reiches (Österreich und Ungarn) konnten sich selten auf eine politische Linien einigen. Dies erschwerte die militärische Ausrüstung und verlangsamte die Modernisierungen des Landes. Österreich-Ungar hinkte zunehmend der Entwicklung der anderen europäischen Mächten hinterher. Ungarns Sonderstellung sorgte außerdem für Unzufriedenheit bei den anderen Minderheiten. Die slawischen Untertanen riefen immer lauter nach Autonomie.
Schon vor 1867 hatten absolutistische Herrscher lange Zeit industrielle Entwicklung aus Angst vor revolutionären Ideen blockiert. Entsprechend seiner Antiquiertheit wurde Wien von den anderen Großmächten nicht für voll genommen – gleich einem Greis, dessen beste Tage lange vorbei sind und dem man höchstens höflichen Respekt zollt. Eben diesen Respekt verweigerte die junge Nation der Serben ihrem großen Nachbarn. Um Europa zu zeigen, dass man noch mit der KuK Monarchie rechnen muss, wollte man Serbien eine Lektion erteilen. Dabei unterschätzte Österreich-Ungarn völlig seine militärischen Fähigkeiten. In Wien fühlte man sich noch als Großmacht bzw. als europäisches Bollwerk gegen die Türken und trat während der Juli-Krise entsprechend borniert auf. Die Tage der KuK Monarchie waren schon gezählt und die Österreicher waren die Letzten, denen diese Tatsache aufgefallen ist.
Der ermordete österreichische Thronfolger Franz Ferdinand war nicht sonderlich beliebt. Er war zwar mit Tatendrang gesegnet, hatte jedoch ein jähzorniges Naturell. Die slawischen Autonomiebestrebungen wollte er als Kaiser von Österreich und König von Ungarn durch einen Ausgleich besänftigen – zum Nachteil Ungarns, das auf seine Sonderstellung verzichten sollte, indem alle slawischen Völker das gleiche Mitspracherecht erhalten würden. Daher wurde in der ungarischen Hauptstadt Budapest die Nachricht seines Todes mit Wohlwollen aufgenommen.
In der folgenden Juli-Krise verpatzte die KuK Monarchie komplett das Timing. Zum einen ließ es das Momentum einer schnellen Strafaktion gegen Serbien ungenutzt verstreichen, brauchte dann über zwei Wochen, um ein Ultimatum zu formulieren und als Serbien die Forderungen überwiegen angenommen hatte, erklärte es dennoch Serbien den Krieg.
Nach dem Blankoscheck aus Berlin trat Österreich-Ungarn mit geschwellter Brust auf und steuerte zielstrebig auf den Krieg zu ohne sich weiter mit dem Deutschen Reich über das genaue Vorgehen abzustimmen. Entweder würde die KuK Monarchie Dank eines siegreichen Krieges wie ein Phönix aus Asche auferstehen oder eben vergehen – dies war die pathetische Formel der Kriegspartei in Wien.
Königreich Serbien
Serbien war ein kleiner, stolzer Staat mit großen Ambitionen. Die KuK Monarchie annektierte 1908 Bosnien-Herzegowina – eine verarmte, ehemalige osmanischen Provinz – und blockierte somit Serbien den angestrebten Zugang zur Adria. In Bosnien lebte zu dieser Zeit eine Minderheit von ca. 800.000 Serben, weshalb das Königreich Serbien in Bosnien einen Teil des Groß-Serbischen Reiches sah. Ohne allerdings die dort lebenden Kroaten und Muslime zu fragen, die sich als Teil der KuK Monarchie wohler fühlten. Seit den Balkankriegen, in denen Serbien große Gebietsgewinne zugefallen waren, war bekannt, dass Serbien mit Minderheiten ziemlich brüsk umging.
Serbien brauchte für seine weitere wirtschaftliche Entwicklung einen Seehafen, was Österreich-Ungarn zu verhindern suchte. Die Folge war eine anti-österreichische Politik in Belgrad sowie französische Kredite, mit denen das serbische Militär aufgerüstet wurde. Dank der Aufrüstung konnte Serbien beide Balkankriege siegreich für dich beenden. Es sah sich dennoch durch die Dominanz von Österreich-Ungarn auf dem Balkan in seiner Entfaltung behindert, was in der von Österreich-Ungarn forcierten Gründung Albaniens unterstrichen wurde. Erneut wurde dem jungen Serbien ein Zugang zur Adria von Wien verwehrt. Eine Clique serbischer Offiziere unter der Führung von Dragutin Dimitrijević, organisierte sich in dem radikalen nationalen Geheimbund „Schwarze Hand„, mit dem Ziel, Österreich-Ungarn zu destabilisieren, was in dem Attentat von Sarajevo mündete.
Great Britain
England war mit seinem britischen Empire eine koloniale Weltmacht. Die rohstoffreichsten Gebiete (u.a. Indien) dieser Welt gehörten zum britischen Empire. Mit seiner Politik der „Balance of Power“ achtete England sehr genau darauf, dass keine andere Nation ihre Vormachtstellungen in Frage stellen konnte. Mit Russland gab es Differenzen wegen Afghanistan (The Great Game) und mit Frankreich wegen des Nildeltas – aber beide Streitpunkte wurden diplomatisch geklärt. Die Flottenaufrüstung und die enorm gestiegene Wirtschaftskraft des Deutschen Reiches wurden jedoch argwöhnisch beobachtet. Es war offenkundig, dass sich die massive Aufrüstung der deutschen Flotte primär gegen die englische Vormacht zur See richtete. Die vom Deutschen Reich finanzierte Bagdad-Bahn verfolgte den Zweck, mit einer direkten Landverbindung zu den Erdölquellen in Nahen Osten, die englischen Seeherrschaft zu umgehen. London sah in Berlin einen stetig wachsenden wirtschaftlichen Konkurrenten.
Im Jahr 1913 hatte Deutschland mit 14,8% an der Weltindustrieproduktion Großbritannien (13,6%) überholt und lag hinter den USA (32%) auf dem zweiten Platz. Sollte sich eine Gelegenheit bieten, dieser Entwicklung entgegenzuwirken, würde man sie in London gemäß der Balance of Power Strategie dankend am Schopf packen.
König Edward VII. fragte seinen Premierminister acht Jahre vor dem Kriegsausbruch, warum die britische Regierung zunehmend eine Stellungen gegen das Deutsche Reich (und seinen Neffen Wilhelm II.) einnahm, statt eher ein Auge auf die wachsende Wirtschafts-Dominanz der USA zu werfen. Der Premierminister beauftragte das Foreign Office eine Denkschrift zu dieser Frage zu verfassen, welche der vermeintliche Deutschland-Experte Eyre Crowe dem König am Neujahrstag 1907 überreichte. Die zentrale Frage war, ob die Rivalität zwischen England und dem Deutschen Reich eher von dessen „Verhalten“ oder aber seiner „Kapazität“ herrührt. Crowe beurteilte die Entstehung des Deutschen Reiches als eine mit „Blut und Eisen“ erzwungene statt gewachsene Expansion, die vermeintlich noch nicht abgeschlossen sei. Das Ziel sei Weltmacht, womit Deutschland in direkter Konkurrenz zum britischen Weltreich stünde. Aufgrund seiner „Kapazität“ sei Deutschland sei es ein ernstzunehmender Rivale. Die deutsche Wirtschaft wächst schneller als die englische und es hat nicht nur die Fähigkeit, die stärkste Armee auf den Kontinent aufzustellen, sondern auch früher oder später eine größere Flotte als England auszurüsten.
…nun und in Zukunft hieße der einzige potente Gegner Englands Deutschland. Die Deutschen strebten mit Konsequenz und Energie nach der Vorherrschaft in Europa. Sie werden zum Schluß Großbritannien zerbrechen, um sich an seinen Platz zu schieben.
Eyre Crowe, Memorandum, 01.01.1907
Hätte das Deutsche Reich den Krieg gewonnen, wäre die französische Flotte ausgeschaltet und die belgische Ärmelküste vermutlich in deutscher Hand gewesen. Dies war ein Schreckensszenario für London. Allein deshalb war es für England opportun, auf der Seite Frankreichs in den Krieg einzutreten. Deshalb kam England die Verletzung der belgischen Neutralität ganz recht. Frances Stevenson, damals die Privatsekretärin von Lloyd George, hat später geschrieben: Man hatte mit dem Leid der Belgier einen „von Gott gesandten Vorwand“ für eine Kriegserklärung.
Der Cambridge Professor Niall Ferguson beurteilt in seinem Buch „Der falsche Krieg“ die britische Kriegserklärung an Deutschland als einen Höhepunkt an Torheit und Kurzsichtigkeit, sowie als schlimmsten Fehler des Jahrhunderts. England dachte, das Deutsche Reich würde zügig gegen die Übermacht der Entente zusammenbrechen. Am Ende musste England aber mehr in den Krieg investieren, als es eigentlich wollte und konnte. Unter der Last begann das Empire zu bröckeln. England sah sich gezwungen, Kredite bei den USA aufzunehmen. Der Krieg sollte England Status als Weltmacht festigen, statt dessen hat er dessen Verfall eingeleitet.
United States of America
Die USA lehnte 1914 eine Einmischung in den 1. Weltkrieg entschieden ab und verfolgte eine „isolationistische“ Außenpolitik. Dennoch wurden die Kriegsparteien England und Frankreich von den USA mit Krediten und Kriegsmaterial unterstützt. Scheinbar wollte man sich trotz der selbst gewählten Isolation das Geschäft nicht entgehen lassen. Im Verlauf des Krieges verdreifachte sich das Exportvolumen der USA. Das Volumen der Kredite betrug ca. 4 Milliarden US-Dollar und dass die USA dieses Geld schwerlich wiedersehen würden, wenn die Mittelmächte den Krieg gewinnen würden, war naheliegend. Obwohl also die Stimmung in den USA gegen einen Kriegseintritt war, sprachen die ökonomischen Parameter dafür.
Am 7. Mai 1915 versenkte ein deutsches U-Boot das englische Passagierschiff Lusitania. Dabei starben 128 US-Bürger. Die USA drohten mit einem Kriegseintritt, woraufhin das Deutsche Reich den uneingeschränkten U-Boots Krieg einstellte. 2008 fanden Taucher in dem Wrack Gewehrpatronen vom Kaliber „.303 British Lee-Enfield“ des US-Herstellers Remington Arms. Die Gesamtmenge dieser Patronen wurde auf ca. vier Millionen geschätzt.
Im Osteraufstand von 1916 rebellierten die Iren gegen die englische Herrschaft. Der Aufstand wurde schnell niedergeschlagen, aber er zeigte eine wachsende Kriegsmüdigkeit auf Seiten der Alliierten. Als 1917 französische Soldaten meuterten, deutsche U-Boote die Versorgung Englands gefährdeten und das zaristische Russland zusammenbrach, mussten die USA handeln, insofern ein Sieg der Mittelmächte verhindert werden sollte. Die Wiederaufnahme des uneingeschränkten U-Boot Kriegs im Februar 1917, war der Anlass für die USA, dem Deutschen Reich den Krieg zu erklären. Eine Anti-deutsche Propaganda in den USA half, den isolationistischen Charakter der US-Bürger aufzuweichen.
Der US-Wirtschafts-Boom in Kriegszeiten war wie ein Rausch, für dessen Kosten andere aufkamen. Die Kriegsproduktion hob die US-Wirtschaft in neue Sphären. Das massive wirtschaftliche Wachstum beschleunigte die Entwicklung der USA zur Großmacht. Kein anderer Staat profitierte so sehr vom 1. Weltkrieg wie die USA.
Die Schuldfrage
Jede dieser Nationen hatte geostrategische (Elsass-Lothringen, Bosporus, Adria) oder wirtschaftliche (England, USA) Gründe für diesen Krieg. Das Deutsche Reich war zwar territorial saturiert, hat aber wie keine andere Nation mit seiner Politik des kalkulierten Risikos so nah an der Lunte mit dem Feuer gespielt. Grund hierfür war die Sackgasse, in die sich das Deutschen Reich mit seinem Hochmut manövriert hatte. Die Kriegsschuldfrage kann dennoch nicht einer Nation allein angelastet werden. Deutschland hätte jedoch mit einer Fortsetzung der „Friedensdiplomatie“ Bismarcks den Großen Krieg unwahrscheinlicher machen können. Statt dessen macht das Deutsche Kaiserreich mit seiner Kriegserklärung an Russland und Frankreich sowie den Einmarsch ins neutrale Belgien aus dem regionalen Balkankonflikt einen Weltkrieg.
Epilog
Der Historiker David Calleo hat gesagt: „Das Deutsche Reich wurde eingekreist geboren“. Es konnte sich nicht, wie die anderen imperialen Großmächte, in irgendeine Richtung ausdehnen. Zugleich war es mit der Reichsgründung saturiert. Bismarck hatte gezeigt, wie sinnvoll es ist, außenpolitisch dezent aufzutreten, um einen Krieg zu vermeiden, in dem man „nichts gewinnen, aber alles verlieren kann.“
Der nördlichste Ort des Deutschen Reichs hieß Nimmersatt und ein Schülerreim lautete: „Nimmersatt, wo das Reich sein Ende hat.“ Dieser Reim passte hervorragend zu der „Friedensdiplomatie“ Bismarcks, die Bedeutung des Ortsnamens jedoch symbolisiert treffend die „Weltpolitik“ des jungen Kaisers – Wilhelm II.
Zu beachten ist, dass in der Ära nach Bismarck die Wirtschaft des Deutschen Reiches rapide wuchs. Somit sorgte die Dynamik einer starken Volkswirtschaft und eines politisch mächtigen und vermeintlich schlagfertigen Militärs dafür, dass die deutschen Eliten anfingen, große Ambitionen zu entwickeln. Der deutsche Zeitgeist entfernte sich immer weiter von der diplomatischen Zurückhaltung der Ära Bismarcks und wurde hochmütig.
Das Volkseinkommen im Deutschen Reich stieg von 14 Millionen Mark in 1870 auf 48 Millionen in 1912. Deutschland erlebte sein erstes Wirtschaftswunder und war vermeintlich unaufhaltsam auf seinem Weg zu einer militärisch hochgerüsteten Wirtschaftsmacht. Dies wurde von den anderen Großmächten nicht unbedingt mit Applaus quittiert. In die außenpolitisch isolierte Lage hatte sich allerdings das Deutsche Reich (ohne Lotsen) selbst manövriert und somit ein Ungleichgewicht der Macht in Europa hergestellt.
Die Schüsse von Sarajevo waren der Auslöser der Krise, aber sie waren nicht der Grund für den Kriegsausbruch. Die Gleise zum 1. Weltkrieg wurden in den Jahren 1890 (Nicht-Verlängerung des Rückversicherungsvertrag mit Russland) bis 1906/07 (Flottenaufrüstung) gestellt. Beheizt wurde die Lokomotive vom französischen Revanchismus (Elsass-Lothringen) und der Dynamik auf dem Balkan. Hätte man den Zug noch rechtzeitig stoppen können? Sicherlich, aber der Bremsweg wäre lang gewesen. Im damaligen Zeitgeist stand ein kriegerischer Konflikt bereits auf dem Fahrplan. Sämtliche Großmächte waren hochgerüstet und wer sich ein Gewehr kauft, möchte es auch abfeuern. Die Länge des Kriegs, die immensen Verluste auf allen Seiten und schlussendlich der „ungerechte“ Frieden von Versailles vergiftete das Klima in Europa nachhaltig. Der Frieden von Versailles war somit lediglich ein Waffenstillstand für zwanzig Jahre und ermöglichte den Nationalsozialisten den Aufstieg.
Keine Nation ist ein Individuum und kann daher eine kollektive Schuld auf sich nehmen. Entscheidungsträger jedoch schon. Somit tragen Wilhelm II, Poincaré, Conrad von Hotzendorf, Apis mit seinen serbischen Ultras und der russische Zar, der immerhin als erster die allgemeine Mobilmachung ausrief, eine Schuld am Ausbruch des Kriegs.
Fehler & Dramen des Kaiserreiches
- 1872 Annexion Elsass-Lothringen satt Kolonien von Frankreich als Kompensation anzunehmen.
- Berliner Kongress von 1878. Statt sich hinter Russland und seiner Forderung nach dem Bosporus zu stellen, stärkt man die Position von Österreich-Ungarn. Ein Ausgleich mit Russland wäre langfristig viel sinnvoller gewesen als ein Bündnis mit der KuK Monarchie.
- Früher Tod Friedrich III. bzw. lange Regentschaft des greisen Wilhelm. Im Dreikaiserjahr von 1888 wird der junge und unerfahrene Wilhelm II. Kaiser.
- Die Nicht-Verlängerung der Rückversicherung mit Russland 1890 führt zu einem Bündnis zwischen Frankreich und Russland.
- Abkehr von der Kontinentalpolitik Bismarcks und Hinwendung zu einer wilhelminischen Weltpolitik (Platz an der Sonne) der freien Hand (ohne Verpflichtungen einer anderen Großmacht gegenüber bzw. ohne Bündnisse).
- Flottenwettrüsten mit England führt zum Bündnis zwischen England und Frankreich.
- Politik des „kalkulierten“ Risikos, um die Einkreisung zu sprengen.
- Blanko-Scheck an Österreich und somit Bindung an die antiquierte KuK-Monarchie und ihre Probleme auf dem Balkan.
- Das militärische Diktat des Schlieffenplans als einzig möglicher Aufmarschplan im Westen. Verletzung der Neutralität Belgiens.